ÜBERRASCHUNGSFAHRT


 

Als ich die Überfahrt buchte, wusste ich nicht, dass ich mehrere Varianten zur Auswahl hatte, mein Ziel zu erreichen. Angeboten wurden die Speedfahrt für Eilige, die Überraschungsfahrt für Neugierige und die Sicherheitsfahrt mit Heimkehrgarantie für Ängstliche. Ich hatte mich für die Überraschungsfahrt entschieden. Allerdings war ich mir nicht sicher, ob das wirklich eine gute Idee war. Unser Steuermann und Reiseleiter hatte sich als Charon vorgestellt - komischer Name, wenn sie mich fragen.

Auf dem Gewässer, auf dem das Boot unserer etwa zwanzigköpfigen Reisegruppe ruhig dahinglitt, kräuselte sich keine einzige Welle. Dichter, weißer Nebel umgab uns wie eine feuchte, geheimnisvolle Wand, die uns von allen Äußerlichkeiten abschirmte. Von der Umgebung war nicht das Geringste wahrzunehmen.

Auf einer der letzten Sitzbänke hinter mir, saß eine Dame, deren Mund bisher nicht einen Moment still stand. Ohne Punkt und Komma und scheinbar ohne Luft holen zu müssen, zerfetzte sie die Stille mit ihrem Redefluss. Jedes Ereignis ihres Lebens, jedes Wort und jeder Satz, den sie jemals von sich gab, wurde in seiner Wichtigkeit betont, aufgebauscht und ausgeschmückt.

Der Mann vor mir informierte seinen Nachbarn über Geschichte und Bedeutung des Flusses, den wir befuhren. Auch über unseren Fährmann hatte er nachgeforscht und ließ sich in aller Ausführlichkeit über dessen Lebensdaten und berufliche Entwicklung aus. Oh Gott! Dieser Schlaumeier wusste wirklich ALLES! Selbst unser Ziel war ihm bekannt und in einem langatmigen, nicht die geringste Kleinigkeit auslassenden Sermon breitete der „Herr Professor“ sein Wissen vor seinem aufmerksamen Zuhörer aus. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass sich jedes Fetzchen Romantik und jedes noch so kleine Geheimnis in diesem Moment in Luft auflöste. Ich blickte mich um und der greise Herr am Steuer, verzog sein runzliges Gesicht zu einem Lächeln und zwinkerte mir zu.

Sehnsüchtig wanderten meine Gedanken zu einem Oktobermorgen in Mecklenburg, wohin unsere Familie fast jedes Jahr in den Herbstferien fuhr. Genau wie jetzt, lag dicker undurchdringlicher Nebel über dem Land. Meine Eltern, meine Schwester und ich, waren mit unserem Kanu, welches Vati selbst gebaut und „Ohio“ getauft hatte, auf den See und durch die unbekannte Welt gepaddelt, die die wattigen Schwaden schufen. Anders als heute, herrschte um uns herum jedoch märchenhaftes unendliches Schweigen.

„Was für ein fürchterliches Mistwetter!“, schimpfte mit brummiger Stimme der „Unzufriedene“ neben mir und riss mich aus meinen Gedanken. „Meine Füße werden kalt und die Fahrt ist total langweilig.“, beschwerte er sich weiter. Der Mann hatte sich bereits beim Einsteigen in das schwankende Boot über das unsichere Transportmittel aufgeregt. Nichts war ihm recht, der Kahn zu klein, die Bank zu hart, das Wetter zu kalt, die Reise eintönig. Offensichtlich gehörte er zu den Menschen, die über ihr Glück stolpern können und es trotzdem nicht bemerken. An unserer faszinierenden Fahrt schien er keinen Gefallen zu finden.

Vor mir wurde der Nebel noch ein wenig dunkler und undurchsichtiger. Doch allmählich begannen sich diffuse Umrisse herauszukristallisieren und einzelne Formen wurden sichtbar. Schließlich erreichten wir das Ufer, der Kahn legte an und wurde an einem Steg festgemacht. Charon half beim Aussteigen und verkündete, dass wir die nächsten Stunden für uns nutzen könnten und uns gern umschauen dürften.

Als ich das Land vor mir betrat, war der Nebel wie fortgeblasen. Die Welt war plötzlich lichtdurchflutet und klar. Je länger ich mich umschaute, umso hingerissener war ich. Die intensiven Farben der Nachmittagssonne verliehen dem vor mir liegenden Garten einen einzigartigen Reiz. Vögel trällerten in allen Tonlagen. Auf großen, von bunten Blumenbeeten eingefassten Wiesen standen alte knorrige Eichen. Seen und Wasserläufe, über die Brücken mit weißen verschnörkelten Geländern führten, begeisterten mich. Baumgruppen lockerten die Szenerie auf und ein Wasserfall krönte die märchenhafte Landschaft.

Während ich bewundernd meinen Blick über dieses wundervolle Stückchen Erde schweifen ließ, hörte ich plötzlich lautes Lachen und übermütiges Kreischen. Neugierig geworden folgte ich diesem fröhlichen Lärm. Ein offenstehendes Gartentor lud mich zum Hindurchgehen ein. Und was ich erblickte, ließ mein Herz vor Freude höher schlagen. Wahrhaftig! Da planschten mein Cousin, meine kleine Schwester und ich quietschvergnügt in einer Zinkbadewanne in Omas Garten. Kichernd spritzten wir uns gegenseitig nass. Der Zuber hatte den Vormittag über in der Julisonne gestanden und das Wasser darin war angenehm lauwarm. Überrascht hörte ich mich aufschreien, als Oma einen Eimer kaltes Wasser über mir leerte. In der selbstvergessen Begeisterung unseres Spieles hatten wir den Inhalt der Wanne auf den Ziegeln des Gartenweges verteilt und nach und nach bedachte Oma jeden von uns mit einem kühlen Guss, um sie wieder aufzufüllen.

Omas Garten war etwas ganz Besonderes. Hier hatte ich mit meinem Cousin und meiner jüngeren Schwester im Sandkasten gebuddelt, Haschen und Verstecken gespielt. Ich hatte Springseil hüpfen geübt und den Hula-Hoop-Reifen auf der Hüfte tanzen lassen, hatte geschaukelt bis mir schwindlig war und Oma gelauscht, wenn sie im Schatten des Apfelbaumes Geschichten vom Struwwelpeter vorlas.

Der Wind wehte den Duft unzähliger Blüten zu mir herüber. Gleich auf der Wiese hinter dem Tor blühten Christrosen, Schneeglöckchen und Märzenbecher. Unter dem Kirschbaum rechts von mir, sprenkelten blasslila Zillas, tiefblaue Traubenhyazinthen, kecke Gänseblümchen und weiße Krokusse den Rasen. Üppige gelbe und rote Tulpen, weinrote Pfingstrosen, orangene Kaiserkronen, buschige Nelken, terracottafarbene Astern, Dalien, Lampionblumen und ein Strauch tränender Herzen zierten die Blumenbeete. Rosen rankten an einem Spalier empor und unter den Birnbäumen hatten sich Veilchen und wilde Stiefmütterchen ausgebreitet. Ja, in Omas Garten blühte immer etwas, jede Blume zu ihrer bestimmten Jahreszeit. Doch hier blühten sie alle zussammen in einer Symphonie der Farben.

Das Schönste, nein das Allerbeste, für mich war, Oma bei der Zubereitung meines Lieblingsessens zuzusehen. Wann immer ich gefragt wurde, was es zum Mittagessen geben solle, war die Antwort immer die gleiche: „Nudeln mit Huhn.“ Natürlich aß ich auch gern Spaghetti mit Tomatensoße, oder Kartoffelpuffer. Doch Nudeln mit Huhn schmeckten bei Oma einfach köstlich.

Hin und wieder bekam Oma von dörflicher Verwandtschaft eine frisch geschlachtete „Hünne“ geschenkt. Diese wurde in einem großen Topf mit kaltem Wasser und einer Prise Salz angesetzt. Hinzugefügt wurden Möhren, Zwiebeln, Sellerie, Petersilienwurz und Liebstöckelblätter, die wir vorher im Garten geerntet hatten. Und während das Huhn mit allen Zutaten langsam garköchelte, verknetete Oma Eier und Mehl für den Nudelteig. Diesen rollte sie danach so dünn aus, dass ich die Maserung des Holzbrettes darunter erkennen konnte. In schmale Streifen geschnitten, kamen die Nudeln später zusammen mit Suppengemüse in die Hühnerbrühe. Als Kompott spendierte Oma ein Glas selbst eingekochte Schwarzkirschen. Nie wieder habe ich etwas Besseres gegessen.

Ein wohliges Glücksgefühl durchtrömte mich und langsam begann ich mich doch darüber zu freuen, dass ich mich für die Überraschungsfahrt entschieden hatte. Wo sonst konnte ich meine Erinnerungen ansehen, wie in einem Kinofilm?

Gespannt, was hier noch auf mich wartete, schlenderte ich weiter. Und dann sah ich ihn – unseren Familiengarten am Stadtrand. Darin den Kirschbaum neben der Gartenlaube, den meine Schwester und ich abernten sollten. Die leckeren zeitigen Junikirschen wollte Mutti als Kompott für den Winter einwecken. Die Leiter stand am Stamm und Vati hatte uns einen großen Eimer mitgegeben, um die erwartete Ernte darin heimzutragen. Doch als wir im Garten ankamen, erhob sich, einer riesigen schwarzen Wolke gleich, eine Schar Stare aus dem Baum, der traurig seine zerfledderten Blätter hängen ließ. Keine einzige Kirsche hing mehr an seinen Zweigen. Die Schwarzbefiederten waren schneller, als wir und hatten uns die Arbeit abgenommen, leider aber auch den Genuss.

Wenig später linste ich über eine Hecke und sah mich selbst in der Sonne sitzen. Im Garten meines Freundes machte die Zeit Pause und vertröpfelte träge im Vormittag. Endlos blaute der Himmel über mir. Die Lehne des Liegestuhls hatte ich schräg gestellt, sodass ich bequem zurückgelehnt den Wölkchen über mir zusehen konnte, die vor dem lauen Frühlingswind durch die blaue Weite segelten. Das Buch, welches ich eigentlich lesen wollte, lag aufgeschlagen neben mir auf dem Gartentisch. Maiglöckchenduft sättigte die Luft. Im Vogelbad stritten sich Zwitscherlinge aller Art um begehrte Plätze. Auf und ab flatternd, lauthals aufeinander schimpfend, versuchten sie sich gegenseitig aus der Schüssel zu vertreiben. Auf dem Stein mittendrin balancierend, verküdete ein zerzauster, pudelnasser Spunzscher fröhlich tschilpend, dass der Frühling endgültig Einzug gehalten hatte. Ein Amselhahn sang seiner Liebsten ein Lied. Scheinbar ungerührt davon, zog diese einen Regenwurm aus der Erde. Sonnenstrahlen neckten Gänseblümchen auf der Wiese, Meisen hüpften im Apfelbaum von Ast zu Ast und Insekten staubten Pollen fast verblühter Blüten ab. Zartes erstes Grün schmückte Äste und Zweige der Bäume um mich herum. Die Welt war weit weg und hatte den Atem angehalten.

Doch dann schaltete der Nachbar das Radio ein und die Stimme des Nachrichtensprechers verkündete: „Es ist Zwölf Uhr. Sie hören Nachrichten.“

Wie aus einem Traum erwachend, nahm ich verwundert wahr, was um mich herum geschah:

Der „Unzufriedene“ umarmte innig eine gutaussehende Frau, während ihm Freudentränen die Wangen hinabliefen.

Der „Herr Professor“ schien über den Rasen zu schweben und schnupperte mit verzücktem Gesichtsausdruck an einer riesigen Rosenblüte.

Und die „Quasselstrippe“? Lächelnd stand sie mit ausgebreiteten Armen in der Sonne und ließ sich von einer lauen Briese die Haare aus dem Gesicht wehen.

Nun war auch unser Reiseführer zur Stelle und unsere Gruppe versammelte sich um ihn. Alle waren inzwischen entspannt und fröhlich. Wir folgten Charon, der uns zu einem prächtigen knarzigen Apfelbaum geleitete, der in voller Blüte stand. Eine tiefe, ruhige Stimme sprach zu uns: „Lieber Charon ich danke dir, dass du alle Seelen wohlbehalten hierher geführt hast. Euch alle heiße ich herzlich willkommen im Garten Eden!“