GUMMIBÄRCHEN    

 

Der Morgen wischte sich den Schlaf aus den Augen, blinzelte die Wolken weg und sendete seine Boten aus, den kommenden Tag zu begrüßen, als ich mein Fahrrad zur Tür hinaus schob, um zur Arbeit zu fahren. Ein Amselmännchen hatte sich den höchsten Punkt in der Umgebung ausgesucht, um sein Morgenlied anzustimmen. Dieses saß auf der Antenne des gegenüberliegenden Hauses und trällerte was das Zeug hielt. Sein sehnsüchtiges, melodiöses, über den Dächern der Stadt schwebendes Tirilieren übertönte sogar den Lärm, der über das Pflaster rumpelnden Autos, so sehr strengte sich der kleine gefiederte Kerl an.
Die Freude, mit der ich dem Lied des Amselhahnes lauschte, lenkte mich etwas ab, von dem mulmigen Gefühl, welches sich seit einiger Zeit in meinem Magen festkrallte, sobald ich an die Arbeit dachte. Ich hatte eine Frage, die mir schon ewig auf dem Herzen brannte und ärgerte mich, weil ich es bisher nicht geschafft hatte, mit dem Chef darüber zu reden. Ich fühlte mich lustlos und unzufrieden, weil ich mich in einer Situation festgefahren hatte, aus der ich keinen Ausweg sah und jeder Versuch daran etwas zu ändern war bisher gescheitert. Natürlich trug ich das Problem schon wieder einmal viel zu lange mit mir herum und hatte mich bis jetzt um ein klärendes Gespräch immer wieder nur darum herum gemogelt, weil ich sehr ungern über etwas rede, so lange ich mich noch selbst bedauere, denn Selbstmittleid finde ich total doof. Für meinen Gesprächspartner ist es im besten Falle belustigend und für mich einfach nur megapeinlich, wenn ich keinen Ton rausbekomme, weil mir mein Kummer den Hals und Tränen die Nase verstopfen und ich mindestens drei Taschentücher brauche, meistens jedoch noch nicht mal eins einstecken habe.
Es war zeitig, kurz nach sechs Uhr. Wie immer war ich ein wenig eher losgefahren, um noch ein paar Minuten Zeit zu haben, einige Worte mit der Verkäuferin im Bäckerladen wechseln zu können, die mir mein Croissant verkauft oder für ein Schwätzchen mit dem Hausmeister, der so früh am Morgen schon emsig damit beschäftigt ist, Zigarettenkippen und weggeworfenen Müll auf dem Parkplatz vor unserem Büro wegzufegen. Außerdem genieße ich es, das Büro noch eine Weile für mich allein zu haben, in Ruhe die verschwitzen Radsachen gegen Hose und Bluse tauschen, Tee kochen, die Post holen und nebenbei den Computer hochfahren zu können. Ein ganz normaler Tag - dachte ich! Mit den gleichen Problemen, den gleichen Tätigkeiten, den gleichen Menschen.
Es begann schon auf dem Radweg von Wurzen nach Grimma, auf dem ich schon seit Jahren, sobald das Wetter es zulässt, jeden Morgen mit dem Fahrrad auf Arbeit und am Abend wieder zurück fahre. Er verläuft entlang des Muldeufers auf einer alten Bahnlinie, die bereits seit mehr als fünfzig Jahren stillgelegt ist. Ich finde es prima, dass vor etwa zehn Jahren jemand auf die Idee gekommen ist, diesen Radweg auf dem Bahndamm anzulegen und freue mich allmorgendlich auf die etwa zwanzig Kilometer lange Strecke, wenn der Tag gerade erwacht, der Tau auf Wiesen und Feldern der Muldenauen glitzert und die Sonne groß, rund und rot, wie auf einer japanischen Flagge am Himmel hängt. Je nach Jahreszeit gibt es immer wieder Neues zu entdecken, weshalb die Strecke nie langweilig wird, auch wenn man sie täglich fährt. Besonders schön ist es natürlich im Frühjahr, wenn nacheinander Forsythien, Weißdorn, alte, knarzige Obstgehölze, Flieder, Ginster, Holunderbüsche und Akazien blühen und man von einer Duftwolke in die nächste fährt, aber auch kühle, klare Sommermorgen und geheimnisvolle Herbstnebeltage sind so reizvoll, dass man süchtig danach werden kann.
Zunächst kam mir kurz hinter der Stadtgrenze der schwarz gekleidete Mann entgegen geradelt, nach dem ich meine Uhr stellen konnte, so pünktlich war er. Stellen Sie sich Zorro in kurzen Hosen auf einem Fahrrad vor, ohne Maske, Hut und Umhang natürlich, dann haben Sie eine Vorstellung von ihm. Er lachte mich an und rief mir winkend ein gut gelauntes „Guten Morgen“ zu. Nach einigen Hundert Metern kam der Nächste, ebenfalls auf seinem Drahtesel angerollt, ein immer sehr ernst dreinblickender breitschultriger Herr, der einen Betrieb hier am Ort leitete, als wir noch die Diktatur des Proletariats hatten. Der grüßte nicht. Als letztes kam mir eine Frau mit Fahrradhelm und Gute-Laune-Lächeln entgegen geradelt. Sie war schätzungsweise in meinem Alter, trug ständig einen roten Anorak und ich mochte sie besonders, weil ihr Lächeln ein Motivationsschub war, der mir Kraft für den Weg und Mut für den Tag gab. Wir tauschten ein kurzes, fröhliches „Hallo“ und der Radweg gehörte mir für den Rest der Strecke allein.
 
Es war am Abend des gleichen Tages, als ich die Frau mit ihrem roten Anorak überholte. Mein Arbeitstag war zu ende und ich trat mit Vollkraft in die Pedalen um den Sonnenuntergang über der Schmölener Lache kurz vor Wurzen nicht zu verpassen. Da hatte ich noch den größten Teil der Strecke vor mir, denn ich war in Grimma gerade erst losgefahren. Dieses Schauspiel lohnt jedoch allemal einen Krafteinsatz und so gab ich ordentlich Gas, um mich daran erfreuen zu können. Um so etwas zu verstehen müssen Sie wahrscheinlich mit eigenen Augen gesehen haben, wie man von einem Hügel einen phantastischen Blick über die Landschaft genießt und zusehen kann, wie die letzten Sonnenstrahlen Wolken und Wasser rot färben. Bei diesem Anblick kann man dann jede schlechte Nachricht vergessen, die im Laufe des Tages aus dem Radio tönte und sich einbilden, dass die Welt ein Paradies ist - und genau für diese kurze Zeitspanne ist sie es auch.
Gerade bog ich um eine Kurve, als ich sah, dass jemand vor mir fuhr, was um diese Zeit ungewöhnlich war. Als ich zum Überholen ansetzte und mich zur Seite wandte sah ich in das Gute-Laune-Lächeln vom Morgen. „Hey, was machen Sie denn hier?“ fragte ich überrascht und schob ein „Wie geht es ihnen?“ hinterher. Das Lächeln verschwand schlagartig aus ihrem Gesicht, was mich wunderte, denn ich hatte ihr eine Freude machen wollen, aber offensichtlich das Gegenteil davon erreicht. Irgendetwas stimmte da nicht und ich war neugierig, was sie auf dem Herzen haben mochte. „Möchten Sie reden? Da vorne stehen Bänke, auf die wir uns setzen können.“ bot ich ihr an, nicht ganz uneigennützig übrigens, denn es hatte mir schon oft geholfen eine, meistens für mich völlig überraschende, Lösung für eines meiner Probleme zu finden, nur dadurch, dass ich einem Fremden zugehört oder mich ihm anvertraut hatte. Einem Fremden können Sie alles erzählen, was Sie Bekannten oder Freunden nicht erzählen können oder vielleicht nicht erzählen wollen. Ein Fremder ist unbeteiligt und kann daher Ihre Situation nicht beurteilen. Dieser Tatsache hatte ich schon manch guten Rat und viele gute Ideen zu verdanken .
Da saßen wir nun, zwei Frauen, zwei bekannte Fremde oder fremde Bekannte und blickten stumm auf den Fluss, über dessen träge fließendem Wasser die Mücken spielten. Natürlich hielten wir uns nicht damit auf Namen auszutauschen. Hinter der Anonymität versteckt, lässt es sich viel besser reden. Meine Geschichten wirken jedoch interessanter und lebendiger, wenn die Leute Namen haben. Außerdem ist ein Name wichtig, denn ohne einen solchen ist die Frau neben mir ein Niemand, eine Unbekannte. In dem Moment, in dem ich ihr einen Namen gebe ist sie nicht mehr Irgendwer. Sie wird wichtig, wird zu einem Menschen, der Hilfe braucht oder einfach nur jemanden, der zuhört. Deshalb denke ich mir einen Namen aus für sie. Simone, die Freundliche, würde zu ihr passen. Jetzt allerdings, ist sie eher Simone, die Traurige, dachte ich.
„Ich habe alles so satt“ brach es unvermittelt aus ihr heraus. „Da schindet man sich ab und kriegt nicht mal ein Dankeschön dafür. Am liebsten würde ich kündigen.“ Simone erzählte und erzählte, als der Damm einmal gebrochen war.
„Ich denke schon lange darüber nach, warum mir eine kleine Anerkennung so gefehlt hat. Normalerweise regen mich solche Kleinigkeiten nicht mehr auf. Vielleicht ist es deswegen, weil mir niemand sagt, wenn etwas gut gelaufen ist, aber alles, was schief geht, erfahre ich auf jeden Fall. Irgendwie fehlt mir da das Gleichgewicht.“
Simone erklärte mir, dass sie den Beruf einer Sekretärin als Umschulung von der Rentenversicherung bekommen hatte, weil sie ihren Beruf als Köchin aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausüben durfte und dass ihr der neue Beruf immer sehr schwer gefallen war, weil sie schusslig ist und sich nicht konzentrieren kann. Sie arbeitet stundenweise in einem kleinen Büro, zusammen mit ihrer Mitarbeiterin, welche auch ihre Freundin ist. Als sie mir danach erzählte, dass sie den besten Chef der Welt hat, verstand ich erst einmal gar nichts mehr. Aber ihre Geschichte ging ja weiter und danach war es nicht mehr schwer ihre Handlung und ihre Enttäuschung nachzuvollziehen.
„Herr Meyer, mein Chef ist ein sehr sympathischer Mensch. Vor Allem, weil er nicht jedes Mal meckert, wenn etwas schief geht. Ohne seine entspannte Art mit Fehlern umzugehen, hätte ich meine Ausbildung bestimmt nach anderthalb Jahren hingeschmissen. Es half mir enorm, dass er nicht jedes Mal eine halbe Stunde benötigte um sich wieder einzukriegen, wenn ich mal was falsch gemacht hatte, was öfter vor kam, als mir lieb war und so habe ich durchgehalten. Die Arbeit mag ich zwar immer noch nicht, aber es passt im Büro, weil wir ein super Team sind.
Als meine Freundin letztes Jahr krank wurde habe ich mir vorgestellt, was ich mir wohl jetzt wünschen würde, wenn ich an Herrn Meyers Stelle wäre, was ja nicht so schwer zu erraten war: mein bester Mann fällt für drei Monate aus und einen Ersatz kann ich nicht bezahlen. Zum Glück habe ich eine Aushilfe, die stundenweise kommt. Vielleicht könnte die …? Danach habe ich einfach losgelegt, weil ich es nicht mag, wenn Leute immerzu reden, was sie denn gern getan hätten, wenn dies oder jenes nicht dazwischen gekommen wäre. Was bleibt denn vom Leben übrig, wenn man sich um die Menschen, die man mag nicht ein wenig kümmert? Ich habe Herrn Meyer gern geholfen und wollte auch nicht, dass er mich wegen jeder zusätzlichen Stunde betteln musste. Immerhin bekomme ich Hartz IV und kann mir meinen Idealismus leisten, Zeit habe ich ja genug und indirekt lebe ich von den Steuern, die er bezahlt. Außerdem hatte Herr Meyer irgendwann nebenbei so eine Bemerkung fallen lassen, dass er überlegt, ob er eine neue Mitarbeiterin einstellt. Heute bin ich mir fast sicher, dass er das nicht wirklich ernst gemeint hat, aber damals habe ich gedacht, das ich mal tüchtig ranklotzen werde, damit er meine Freundin nicht zu sehr vermisst und sie noch einen Arbeitsplatz hat, wenn sie wieder gesund ist. Sarah hatte mir mal anvertraut, dass dieser Beruf ihr Traumjob ist, was ich nun überhaupt nicht nachvollziehen kann und dann steht sie mit dem Krankenschein vor mir, weint bald, als sie sagt, dass es ihr egal sei, wenn der Chef sie jetzt entlässt, was in ihrer Situation für mich natürlich ungeheuer glaubhaft klang.
Es gab noch einen Grund mich anzustrengen. Wenn meine Leistungen besser gewesen wären, hätte ich die Stelle bekommen. Aber dann hat Herr Meyer meine Freundin eingestellt und mir damit indirekt zu verstehen gegeben, dass er mir nicht zutraut, mit der Arbeit fertig zu werden. Als Sarah krank wurde, war doch die beste Möglichkeit herauszufinden, ob er damit recht hatte. Ich bin nun einmal unglaublich neugierig, will jede Erfahrung selbst machen und habe deshalb mal ein bisschen mehr Zeit und Kraft investiert, als ich es normalerweise tun würde. Die Arbeit hat mir riesigen Spaß gemacht, weil ich gemerkt habe, dass es wie beim Lauftraining ist, je mehr Übung ich hatte umso besser lief es. Als jedoch das viertel Jahr um war und ich spürte, wie riesengroß die Erleichterung war, zu wissen, dass meine Freundin ab Montag wieder da sein würde und ich die ganze Verantwortung wieder in ihre Hände legen und unbeschwert in den Urlaub fahren konnte, da hatte ich eine Antwort, ohne das jemand dazu ein Wort verlieren musste.
Simone hielt kurz inne, blickte intensiv auf den Boden, als wären die Ameisen, die dort durcheinander wuselten das interessanteste der Welt, scharrte mit der Schuhspitze ein Bonbonpapier unter die Bank, um danach fortzufahren: „Und nun stell dir vor, dass du drei Monate durch gepowert hast, es ist Freitagnachmittag und eigentlich schon seit zwei Stunden Feierabend. Da kommt der Chef aus seinem Arbeitszimmer, legt dir einen Zettel auf den Schreibtisch, auf dem er sechs oder sieben Akten notiert hat, die du noch für die Buchhaltung heraussuchen sollst, wünscht dir einen schönen Urlaub und ist zur Türe raus, ehe du ihm das gleiche wünschen kannst. Also, ich habe die Welt nicht mehr verstanden.“
 
Unsicher streifte mich ihr Blick von der Seite. „Kannst du mich verstehen?“ „Natürlich.“ antwortete ich. „Was gibt es denn da nicht zu verstehen? Du hast ein Problem auf Arbeit und das überrascht mich kein Bisschen. Irgendjemand hat mir einmal erklärt, dass du in den nächsten Supermarkt oder auf den Leipziger Hauptbahnhof gehen und dort wahllos beliebig viele Menschen heraussuchen kannst. Du wirst feststellen, dass alle diese Menschen die gleichen Probleme haben: Probleme mit der Familie, mit Freunden, mit ihrer Gesundheit und der Arbeit. Was ist schon ein vergessenes Dankeschön? Man könnte denken, dass es nicht lohnt, sich wegen einer solchen Lappalie graue Haare wachsen zu lassen. Schultern zucken und weiter machen wie bisher wäre sicher das Einfachste, aber auch ich habe erst im vergangenen Jahr erlebt, wie wichtig solche Kleinigkeiten sind und wie sehr diese damit zu tun haben, ob die Schwierigkeit vor der ich gerade stehe zu einer Herausforderung oder einem unüberwindbaren Hindernis wird.“ Ich überlegte nur kurz, ob ich ihr nun mein Problem schildern sollte, entschied mich jedoch dagegen und um sie aufzumuntern erzählte ich Simone nun eine Begebenheit, die mir während ihres Berichtes wieder eingefallen war. Vielleicht war es ja überhaupt der Sinn dieser Begegnung, dass diese kleine Episode nicht in Vergessenheit geriet?
 
                                                                  

 

„Es ist ungefähr zwei Jahre her, “ begann ich, „dass ich vierzehn Tage vor Weihnachten von einer Zeitarbeitsfirma in Deutschlands größtes Versandzentrum angeheuert worden war, um Päckchen zu packen. Wir schufteten in einer hässlichen, riesigen, schummrigen Halle mit Maschinen und Hilfsmitteln, die schon unmodern waren, als Kleopatras Sklaven noch damit gearbeitet hatten. Trotzdem unsere Arbeitszeit offiziell erst um 6:00 Uhr begann, wurde stillschweigend von uns erwartet, dass wir eine halbe Stunde eher kamen, um unseren Arbeitsplatz vorzubereiten. Es gab eine Norm, aber diese in den ersten vierzehn Tagen schaffen zu wollen, war aussichtslos und die ständigen Mitarbeiter, die sie schafften hatten ein nervöses Zucken in den Augenwinkeln. So eine Dame hatte mich an meinem ersten Arbeitstag eingewiesen und nach zwei Stunden bekam ich meinen Probearbeitsplatz zugeteilt. Am Morgen des zweiten Arbeitstages stand plötzlich eine junge Frau neben mir. Holte aus der Tasche ihrer geblümten Kittelschürze zwei Gummibärchen und legte sie an den Rand meines Tisches. „Du bist doch neu hier.“ sagte sie, als ich sie überrascht ansah. Ich umarmte sie und strahlte sie an. «Mensch - tolle Idee» freute ich mich und fühlte mich gleich viel besser, nicht mehr so allein mit einem schweren, endlos langen Arbeitstag vor mir.
Stell Dir das mal vor! Zwei Gummibärchen, ein Gelbes und ein Rotes. Drei Milliliter Wasser, drei Gramm Zucker eine Prise Gelatine, und zwei Tropfen Aroma. Kosten: maximal zwei Cent. Ein kleines Zeichen der Sympathie und Solidarität unter den modernen Sklaven, die heute „eingekauft“ und morgen ohne Probleme entlassen werden können.
Zwei Gummibärchen, ein Gelbes und ein Rotes. Drei Milliliter Wasser, drei Gramm Zucker eine Prise Gelatine, und zwei Tropfen Aroma. Kosten: maximal zwei Cent. An diesem Tag verging die Zeit, wie im Fluge, ich spürte keine Schmerzen in meinen Knien - und es war der einzige Tag, an dem ich meine Norm zu Einhundert Prozent erfüllte.
 
Aus den Augenwinkeln sah ich, wie eine Träne sich von Simones Wimpern löste, die sie verstohlen wegwischte. Hoffentlich weint sie jetzt aus Erleichterung darüber, weil wenigstens einer ihrer Mitmenschen verstanden hat, wie ihr ums Herz ist, dachte ich. Um sie nicht in Verlegenheit zu bringen schaute ich dem eleganten Flug einiger Mauersegler zu, die Insekten über dem Fluss jagten und währenddessen kam mir ein richtig guter Einfall. Jetzt wollte ich zwar immer noch schnell nach Hause, der Sonnenuntergang über der Schmölener Lache war mir an diesem Abend jedoch vollkommen egal.
 
Die Freude darauf, Simone zu überraschen, ließ mich am nächsten Morgen auf dem Radweg nach Grimma, wie im Fluge dahin gleiten, denn ich war gestern noch schnell in dem Supermarkt gewesen, der in Wurzen bis 22:00 Uhr geöffnet hat und hatte ein Geschenk für sie gekauft. Schon, als ich Simone von Weitem sah, winkte ich ihr zu und sie winkte fröhlich zurück. „He, halt mal kurz an, ich habe etwas für dich“, rief ich ihr aufgeregt entgegen. Nebeneinander stiegen wir kurze Zeit später von unseren Rädern und beide wühlten wir in der, an unserem Hinterrad befestigten Tasche. Als ich mich umsah, war ich bestimmt noch überraschter, als Simone, der Tag schien plötzlich aus vollem Halse zu lachen und wir beide taten es ihm gleich, denn jede von uns hatte der anderen, vor Freude strahlend ihr Geschenk entgegen gehalten: eine Tüte Gummibärchen, mit einem roten Schleifchen darum.