Wie Lenny dem Fuchs entkam

 

 

Im Hasendorf gab es zurzeit nur ein einziges Gesprächsthema: Alfred, der Amselmann hatte sich mit dem dicken Kater Oskar angelegt - und war Sieger geblieben. Oskar hatte angeblich überhaupt keine bösen Absichten gehabt. Er hatte sich unter dem Apfelbaum in Müllers Garten, in dessen Geäst sich Alfreds und Claras Nest befand, zu einem gemütlichen Mittagsschläfchen zusammengerollt, was jedenfalls seine Version der Geschichte war, die der Kater allen erzählte, die sie hören wollten und bald wollte sie niemand mehr hören. Denn, so sagten die alten weisen Hasen, eine Lüge wurde auch durch noch so häufiges Wiederholen nicht wahr. Egal, was Oskar nun wirklich vorhatte, ob er nur ein Schläfchen im Schatten halten wollte oder ob er etwa doch Absichten auf Alfreds und Claras Nachwuchs hatte, wie Alfred es ihm unterstellte, der Amselhahn hatte sich wütend auf das weiß, schwarz, rot gescheckte Katzentier gestürzt, um seine Kinder zu schützen. Die Flügel weit vom Körper abgespreizt und den Schnabel aufgesperrt war Alfred immer und immer wieder todesmutig auf den Stubentiger herabgestoßen. O ja, Alfred fürchtete sich vor Oskar und sein Herz schlug bang in seiner Brust, doch die Angst um seine Jungen war um vieles größer und diese Angst machte ihn zornig, mutig und stark. Oskar, derartige Attacken seitens eines kleinen Vogels nicht gewohnt, zog es vor gravitätisch eine Pfote vor die andere setzend den Rückzug anzutreten. Auch wenn der wütende Alfred am Gewinnen war, seine Würde wollte der runde Kater keinesfalls einbüßen, denn Katzen sind stolze Gesellen, die den Spott der anderen Tiere nur schwer verwinden. Und deren Spott war ihm gewiss, wenn er Hals über Kopf vor einem wild gewordenen Federball die Flucht ergriff.

Diese Geschichte hielt alle Tiere in Atem, denn sie war wirklich einmalig, sie wurde weiter erzählt bis sie zu doppelter Größe aufgeblasen war, sie wurde ausgewertet und gebührend gewürdigt und Du kannst dir nicht vorstellen, wie froh Lenny Hoppelpoppel darüber war, denn so achtete niemand auf ihn, sein Abenteuer kam nicht heraus und es blieb auch geheim, bis er es nach langer Zeit seinen Enkeln erzählte. 

Lenny Hoppelpoppel war zu einem pfiffigen Junghasen herangewachsen, der immer einen Scherz auf Lager hatte und seine Schwester Alexandra ärgerte. Lenny hatte in seinem jungen Leben noch keinen Kummer kennen gelernt und deshalb wusste er nicht, wie sehr sich Alexandra wegen seiner spöttischen Bemerkungen über ihre kleinen Unzulänglichkeiten grämte und immer war er derjenige, der Streiche ausheckte und hin und wieder auch seine Freunde veralberte. Besonders, wenn er bei einem Spiel zu verlieren drohte, konnte Lenny mitten in der Bewegung plötzlich inne halten und wie gebannt nach oben in den Himmel starren. Einer nach dem anderen taten es ihm die anderen Hasenjungen nach, bis auch der Allerletzte in den blauen Himmel hinauf blickte, nur um festzustellen, dass dort überhaupt nichts zu sehen war, außer ein paar Wattewolken etwa, vor denen sich schwarz die Silhouette des Roten Milans Harald abzeichnete, der da oben, vom Wind getragen dahinschwebte. Auf diesen Scherz fielen die Spielkameraden immer wieder herein, obwohl sie sich jedes Mal vornahmen, dass es ihnen nie wieder passieren würde. Und ausgerechnet diese harmlose List sollte Lenny eines Tages das Leben retten. 

Es war das Jahr in dem das Osterfest erst sehr spät gefeiert wurde. Die Osterglocken waren bereits verblüht, als im Hasendorf mit den Vorbereitungen begonnen wurde. Die Hasen waren jedoch zufrieden, denn inzwischen gab es genügend Farben, um die Eier zu bemalen, die zuerst den wenigen Hennen, die es im Dorf noch gab aus den Nestern genommen wurden. Um die Farben zu erhalten mussten die Blumen, die jetzt überall üppig blühten,fest an den Bauch gedrückt werden, dann sammelten sich in ihren Kelchen einige Tropfen rote, gelbe, blaue oder gar lila Flüssigkeit, die dann in große Farbeimer hineingeschüttet wurde. In den Wochen vor dem Osterfest, wenn die Eier bunt gefärbt wurden, liefen deshalb alle Hasen mit einem kunterbunten Bäuchlein durch die Welt.

Lenny, der nichtsnutzige Schlingel, der für sich entschied, dass die anderen mit dieser Arbeit auch ganz gut ohne ihn fertig werden würden, hatte sich klammheimlich davon gestohlen und war, gut getarnt - wie er glaubte - in einer kleinen Höhle in den Wurzeln der Weide am Rande des großen Kleefeldes eingeschlafen. An einem Kleeblatt mümmelnd döste er friedlich vor sich hin, als er von dem übel riechenden Atem, den die Füchsin Isabella ihm ins Gesicht blies, munter wurde. Da war nun guter Rat teuer. Lenny spürte den stechenden Schmerz der Furcht, die sich plötzlich in seinem kleinen Magen zur Faust geballt hatte. Lenny wusste nicht, was er tun sollte, denn er war zwischen den Wurzeln gefangen, konnte nirgendwohin ausweichen und auch nicht Haken schlagend um sein kleines Leben rennen. Er konnte sich nur noch tiefer in seine Höhle schmiegen, aber Isabella begann die Erde zwischen den Wurzeln fort zu buddeln und so war es nur eine Frage der Zeit, bis sie Lenny aus seinem Versteck zerren würde. Fieberhaft überlegte der Hasenjunge, wie er Isabella überlisten könnte. Aber Füchse sind als die schlausten und trickreichsten Tiere in Wald und Flur bekannt und so bestand für das Langohr wenig Hoffnung, aus der Falle, die er sich auch noch selbst gestellt hatte, lebend wieder heraus zu kommen. Niemand konnte ihm zu Hilfe eilen, weil er keiner Hasenseele gesagt hatte, wo er zu finden war. Da - immer näher kam Isabella. Wachsam sah die Füchsin zu Lenny hin, um ihm ja keine Chance zur Flucht zu geben. Lenny, dem die Angst schmerzhaft von innen gegen den Bauch zu boxen begann, fing an zu schwitzten, seine Barthaare zitterten und seine Nase bewegte sich noch unruhiger, als sonst, denn gleich würde Frau Reinecke sich zu ihm durchgegraben haben. Beide Tiere saßen vor einander und für einen Moment sahen sie sich in die Augen. Lenny blickte in die gierigen, listigen Augen der Füchsin und Isabella schaute in die ängstlichen, bettelnden Augen des Hasenjungen und genau in diesem Moment traf Lenny der Geistesblitz. Ganz langsam hob der Hasenjunge den Blick zu den Zweigen der Weide, die der Wind leise raschelnd bewegte und die nur kleine Stücke des blauen Himmels durchscheinen ließen. Nur für einen Augenblick war Isabella abgelenkt, als sie sich vergewisserte, dass ihr von dort oben keine Gefahr drohte. Diesen Moment nutzte Lenny, um in die heiß ersehnte Freiheit zu entwischen. Später wusste er nicht mehr, ob er mit einem verzweifelten riesigen Satz über die Füchsin hinweg gesprungen war oder ob er diese mit aller Kraft seiner starken Läufe beiseite gestoßen hatte, aber als er sich einmal aus der Höhle befreit sah vervielfachte die Wut der Angst seine Stärke und er rannte und rannte und rannte, schlug Haken, sprang so hoch er konnte, wenn Isabella zum Sprung ansetzte, um ihn zu fangen, bis er sie am Ende doch abgehängt hatte. Als die Füchsin sich enttäuscht keckernd in den Wald getrollt hatte, saß Lenny, dessen Atem rasselnd in seine Lungen strömte zitternd in einer Furche des Kleefeldes, sein Herz pochte, als wollte es zerspringen und zum ersten Mal in seinem Leben weinte er. Lenny weinte vor Freude über sein neu geschenktes Leben, weinte vor Erleichterung, weil er der Gefahr in letzter Sekunde entronnen war und weil die Anspannung der letzten Minuten langsam von ihm wich und er erst jetzt seinen ungeheuren Leichtsinn erkannte. 

Obwohl Lenny sein Erlebnis mit der Füchsin für sich behielt, musste die Kunde davon doch irgendwie wenigstens seine Mutter Gerlinde erreicht haben, denn diese sah ihren Sohn mit prüfendem Blick an, wenn dieser sich in der nächsten Zeit sehr viel eifriger als alle anderen Hasenkinder am Färben und Verstecken der Ostereier beteiligte. Aber Gerlinde schwieg, weil sie wusste, dass Lenny auch ohne, dass sie ihn zur Rede stellen musste, in Zukunft sehr viel vorsichtiger sein würde.