GLAUCHAUER HERBSTLAUF 

 
Der Mensch ist ein Herdentier und meine Herde ist ganz einfach weg, verschwunden und fort über alle Berge. Weit vor mir sehe ich nur noch die Rücken und wirbelnden Waden der anderen Läufer und fühle mich, wie das letzte Schaf auf der Weide. Mäh! Das frustriert und es wird daher nichts mit einem gemütlichen Trainingslauf, denn auch wenn ich vorausgeahnt habe, dass ich wohl nicht an der Spitzte mitlaufen werde, ist es ziemlich entmutigend, wenn man so plötzlich aus der schützenden Horde ausgegrenzt ist. Um den Anschluss nicht ganz zu verpassen lege ich nun doch den nächst höheren Gang ein. Rechts neben mir schnauft ein Opa und ich versuche, mich wenigstens von ihm nicht überholen zu lassen. Allerdings ist diese Anstrengung vergebens, der alte Herr in seinem grauen Trainingsanzug ist wesentlich besser drauf, als ich und der Abstand zwischen uns wird langsam aber sicher immer größer. Na ja, meine Kondition ist nicht die Allerbeste, immerhin habe ich mit dem Lauftraining erst vor einem Monat wieder begonnen und außerdem war ich die letzten vierzehn Tage krank und musste eine Bronchitis auskurieren. Nur gut, dass ich wenigstens vor mir selbst eine Ausrede für meine schlechte sportliche Verfassung habe, sonst würde ich gleich den Mut verlieren und aufgeben.
Es ist das letzte Oktoberwochenende, an dem traditionell der Glauchauer Herbstlauf stattfindet. Mein Freund Jörg ist bei dieser Veranstaltung bereits im vorigen Jahr einen Halbmarathon gelaufen, während ich als sein „Assi“ mit von der Partie war. Als Assistentin hatte ich verschiedene Aufgaben: ich hatte seine Jacke bereit gehalten, damit er etwas zum Überziehen hatte, als er schwitzend ins Ziel gelaufen kam, hatte Fotos geschossen und am Wegesrand die Läufer durch Klatschen und Zurufe angespornt.
Dieses Jahr bin ich nicht als „Garderobenständer“ mitgekommen, sondern habe mich als aktive Sportlerin für den Zehnkilometerlauf angemeldet. Nun haben mich fast alle Läufer abgehängt, hinter mir laufen nur noch zwei Leidensgenossen. Na, zumindest bin ich wenigstens einmal Dritte, auch wenn es nur am Ende der Kolonne ist. Man muss die Sache positiv sehen, denn auch von einem so berühmten Mann, wie Napoleon erzählt man sich, dass dieser bei einem Lauf während seiner Armeezeit nur mit dem letzten Drittel aller Läufer ins Ziel gekommen ist. Trotzdem ist der junge Soldat noch französischer Kaiser geworden, was mich für die Zukunft hoffen lässt, obwohl ich meine Ziele natürlich nicht so hoch gesteckt habe.     
 
 
Nachdem ich die erste große Straßenkreuzung passiert habe und nach etwa Einhundert Metern von der Straße auf einen Fahrweg abgebogen bin, beginne ich den Lauf zu genießen. Jetzt kann ich mir das auch leisten, denn es drängelt kein Auto mehr hinter mir. Autsch! Was ist das denn nun wieder? Geht heute eigentlich alles schief? Gerade hat ein Stein den Weg in meinen Schuh gefunden. Zwar nur ein ganz Kleiner, der aber trotzdem wie ein ganz Großer drückt. Was mache ich nun? Ehe ich mich gebückt, den Schuh aufgeschnürt, den Kiesel entfernt und den Schuh wieder angezogen und zugebunden habe, haben mich auch noch die beiden letzten Läufer eingeholt. Bloß das nicht, also Zähne zusammen beißen und weiter laufen!
Und dann, am Ende des Weges, ich habe gerade den zweiten Kilometer geschafft: was für ein Anblick! Die kleinen Wellen eines Stausees glitzern in der Sonne, deren leuchtende Strahlen die Herbstfärbung der Blätter regelrecht auflodern lassen und ich vergesse beim Schauen auf diese Pracht den Stein im Schuh, der komischerweise keine Schmerzen mehr verursacht.
Immer weiter führt die Strecke auf dem Staudamm entlang, danach durch einen Park, an zwei kleinen Teichen vorbei, dann passiere ich bei Kilometer fünf die Verpflegungsstelle und gönne mir im Vorbeilaufen ein Stück Banane und einen Becher mit ungesüßtem Hagebuttentee.
Ich finde es immer wieder erstaunlich, mit wie viel Enthusiasmus solche Laufveranstaltungen von den Vereinen vorbereitet werden und wie viele fleißige Helfer den organisatorischen Aufwand bewältigen, denn Irgendjemand muss doch den Tee kochen, die vielen Apfelschnitze und Bananenstücke schneiden und die Schilder mit den Kilometerangaben aufstellen, damit jeder Läufer sehen kann, wie viele Kilometer er bereits geschafft und wie viele er noch vor sich hat. Nicht jeder Läufer ist so genügsam wie ich, die meisten sind da wesentlich ehrgeiziger. Sie laufen nach der Uhr und versuchen jedes Jahr, wenn schon nicht den Streckenrekord, dafür jedoch ihren eigenen Bestwert gegenüber dem Vorjahr zu überbieten. So eitel bin ich nicht, ich freue mich an der Bewegung und dem wunderschönen Herbsttag. Immerhin kann ich stolz auf mich sein, weil ich mir überhaupt zutraue, so einen Lauf mitzumachen. Seitdem ich vor etwa vier Jahren mit dem Lauftraining begonnen habe, bin ich zwar zu einigen Läufen gestartet, aber an die Zeit meines ersten Zehnkilometerlaufes bin ich nicht wieder herangekommen. Natürlich liegt das auch daran, dass ich nicht richtig trainiere und nur so zum Spaß laufe. Zwar habe ich einige Bücher im Regal stehen, die von Fachmännern geschrieben wurden und in denen steht, wie man es richtig macht, aber wenn ich mich danach richten würde, würde mir der Sport keinen Spaß mehr machen. Und am Ende ist es wie bei allen Dingen, man kann sich eine Menge Theorie zu Gemüte führen, aber das Laufen selbst oder die tägliche Diskussion mit meinem inneren Schweinehund, der lieber zuhause mit einem Buch in der Hand auf dem Sofa sitzen bleiben würde, nimmt mir natürlich auch ein Experte nicht ab. Die wirklich wichtigen Dinge müssen Sie sowieso selbst herausfinden. Oder haben Sie in all den superschlauen Büchern, die Sie sich zulegen können, wenn Sie einmal beschlossen haben etwas für Ihre Gesundheit und gegen Ihre überflüssigen Pfunde zu tun, ein einziges mal den Hinweis gelesen, dass das Erste, was Sie zum Joggen benötigen keinesfalls nur ein Paar Laufschuhe und bequeme Sachen sind? Ein guter Rat von mir: gehen Sie zunächst die Strecke ab und sehen Sie zu, dass sich an dieser nach etwa einem Kilometer ein kleiner Park mit Unterholz, oder wenigstens ein einigermaßen blickdichter Busch vor einer Mauer befindet. Dann gehen Sie nach Hause rollen sich ein oder zwei Meter von einer Rolle Toilettenpapier ab und verfrachten dieses in die Tasche Ihrer Laufsachen, denn das Wunderwerk der Natur, welches unser Körper ist, ist äußerst zweckmäßig eingerichtet und wirft bei jeder ungewohnten Anstrengung erst einmal überflüssigen Ballast ab. Und nachdem Sie danach noch festgestellt haben, dass Sie eigentlich gegenüber unseren besten vierbeinigen Freunden diskriminiert werden, nur weil Sie kein Fell haben, können Sie immer noch bequeme Schuhe kaufen und sich über Ihren Laufstil Gedanken machen. Na gut, ich weiß natürlich nicht, wie es Ihnen geht, vielleicht mögen Sie ja keinen Sport, aber ich habe alles benötigt, auch den Busch und das Toilettenpapier, nur dass ich ohne Hilfe dahinterkommen musste.
 
 
Inzwischen habe ich den siebenten Kilometer hinter mir und den Eindruck, dass sich die Organisatoren hier gründlich vermessen haben, weil die Strecken zwischen den Schildern immer länger werden, je länger ich unterwegs bin. Ich bin das gewohnt, weil bei allen Läufen der erste Kilometer immer viel kürzer, als der letzte ist. Wenn Sie im Mathematikunterricht aufgepasst haben, mögen Sie zwar denken, dass ein Kilometer so lang wie die andere ist, aber da täuschen Sie sich gewaltig, denn ich konnte bei jedem Lauf feststellen, dass der letzte Kilometer mindestens doppelt so lang, wie der Erste ist. Nur gut, dass ich zuhause ohne Schilder unterwegs bin und deshalb auf meiner Übungsstrecke nie weiß, wie lang jeder einzelne Kilometer ist, denn dies wäre genauso eine Begeisterungsbremse, wie die Tatsache, dass mich meine Mitläufer allein zurück gelassen haben. Es ist doch komisch, dass ich bei meinem täglichen Trainingslauf, den ich nur in meiner eigenen Gesellschaft zurücklege nie einsam bin und mich hier im Stich gelassen fühle, wo ich mit über Eintausend Gleichgesinnten unterwegs bin.
Bei Kilometer Fünf hatte ich noch einmal richtig Fersengeld gegeben um den Opa zu überholen, Sie wissen schon, den alten Herrn mit dem grauen Trainingsanzug, aber meine Energie reichte nur kurzzeitig und so ist er mir wieder ausgebüxt und schon lange nicht mehr zu sehen.
Vor mir laufen schon seit geraumer Zeit zwei Frauen, anscheinend Freundinnen, die gemeinsam unterwegs sind. Man kann sehen, wie groggy die jüngere der beiden ist. Die ältere wartet immer wieder geduldig, bis ihre Freundin aufgeholt hat und macht ihr damit Mut zum Durchhalten und Weiterlaufen. Der Gedanke an einen Gefährten, der diese Tortur mit mir gemeinsam durchsteht tut gut, wird aber sicher ein Wunschtraum bleiben, denn mein Freund steht mit Sicherheit jetzt schon unter der warmen Dusche und ist seinen Halbmarathon in der gleichen Zeit gelaufen, wie ich meine zehn Kilometer, die für ihn mehr oder weniger ein Spaziergang wären. Wie groß der Ansporn ist, wenn wenigstens auf den letzten Dreihundert Metern ein Mensch an meiner Seite läuft, habe ich erfahren, als einmal bei einem Leipzig-Marathon eine junge Frau meine Hand ergriff und mich mitriss. Sie verlor dadurch sicherlich einige Sekunden, aber mir hatte sie damit einen guten Dienst erwiesen.
Bei Kilometer Acht habe ich den größten Teil meiner Kraft verpulvert, so als hätte ich bereits am fünfzehnten des Monats mein ganzes Wirtschaftsgeld ausgegeben. Es geht aber immer noch weiter und jetzt ist es mehr eine Geduldsfrage, als eine Frage der Kraft. Die Fußsohlen brennen und das Ziehen im Rücken wird immer unangenehmer, da heißt es durchhalten, denn bei Laufveranstaltungen gibt es, wie bei Jedermann-Radrennen üblich, keinen Besenwagen, der alles zusammenkehrt, was auf der Strecke liegen bleibt. Und selbst wenn es ihn gäbe, würde ich mir diese Blamage gerne ersparen, so viel Ehrgefühl habe ich schließlich doch noch, den Lauf auf meinen eigenen Füßen, statt auf vier Rädern, zu beenden. Ich laufe etwas langsamer, denn den drittletzten Platz macht mir nun niemand mehr streitig. Bei Kilometer Neun muss ich unter einer Brücke hindurch laufen und den letzten Teil der Strecke lege ich zusammen mit den Läufern zurück, die den Halbmarathon laufen und ich genieße das Bad in der Menge. Nach einer Stunde und einundzwanzig Minuten erreiche ich nach einem Sprint auf den letzten Einhundert Metern das Ziel, eine gut gelaunte junge Dame hängt mir die Teilnehmermedaille um den Hals und Jörgs Mutti wartet vor dem Ausgang des Zeltes mit einer warmen Jacke auf mich.