Fürchte nicht den Galgen, wenn dir der Tod auf dem Meere bestimmt ist.

 
türkisches Sprichwort
 
 
+ + + Donnerstag, den 14.09.2006 + + +
Neuküstrinchen - Mescherin            ca. 90 km
 
 
Die Sonne kitzelt mich aus dem Schlafsack und wärmt das Zelt auf, bis es fast unangenehm warm wird. Statt mich noch einmal umzudrehen suche ich meine Siebensachen zusammen um zu frühstücken. Draußen ist es noch angenehm kühl. Während der Kocher schmaucht und das Wasser für den Tee erwärmt verschwindet meine morgendliche Benommenheit langsam. Vergnügt sitze ich auf einer Bank an einem Tisch, der vor drei kleinen Bungalows steht und verzehre mit großem Appetit dicke Käse- und Wurstbrote. Diese ersten ungestörten Momente sind mir kostbar. Ich schwelge in dieser Behaglichkeit, den blauen, wolkenlosen Himmel über mir und um mich herum ein Ort der das Auge erfreut. Schon immer hat mir an dieser Art zu reisen die gemächliche Beständigkeit mit der die Tage vergehen so unglaublich gut gefallen; der Morgen und der Abend mit ihren feststehenden Tätigkeiten und dazwischen ausreichend Zeit, in der außer dem Ziel nichts festgelegt und darum alles möglich ist.
 
Irgendwann im Laufe des Vormittages stehe ich mitten in der Prärie auf einer Kreuzung. Ein Hinweisschild ist weit und breit nicht zu sehen. Ich bin unsicher, wie ich jetzt weiter fahren soll, denn auf der Karte ist diese Kreuzung gar nicht eingezeichnet. Ich mache mir die Entscheidung einfach, denn zurück will ich nicht fahren. Nach links abbiegen möchte ich auch nicht, weil der Weg sich von der Richtung, in der mein Ziel liegt zu weit entfernt. Ich könnte geradeaus weiter fahren, aber der Feldweg mit seinen tiefen Fahrspuren ist eine Zumutung und in etwa fünfhundert Meter Entfernung lockt der Oderdamm. Ich biege deshalb nach rechts ab und fahre vorbei an eingezäunten Weiden und einer wilden Müllkippe. Wenig später stellt sich heraus, dass der Weg auf dem Damm auch nicht gerade ein Highlight ist. Zwar sind auf der Dammkrone Betonplatten verlegt, aber diese sind zum Teil beschädigt oder locker. Die dadurch entstandenen Unebenheiten und Zwischenräume erschweren das Vorankommen beträchtlich. Trotz allem genieße ich den Blick über die weitläufigen Flussauen in denen kein Hindernis den Blick in die Ferne verstellt. Diese Landschaft vermittelt mir das Gefühl von Unendlichkeit und Harmonie. Die Zivilisation mit ihrer Hektik und ihren Problemen scheint weit weg zu sein. Ich bin allein mit der Stille. Zumindest in diesen ungestörten Momenten ist die Welt in Ordnung.
 
Bald muss ich an einigen Stellen vom Rad steigen, weil der Weg immer schlechter wird. Ich komme an eine Baustelle und an dieser ist fast kein Vorwärtskommen mehr. Hier befindet sich endlich auch eine Abfahrt, eine breite Sandpiste, die in den nächsten Ort führt. Aus der Gegenrichtung kommt mir ein Mann entgegengefahren. Bei mir angekommen steigt er von seinem Rad und erklärt, dass er mir nicht empfiehlt auf dem Damm weiter zu fahren, weil der Weg noch schlechter wird. Ich sehe den Mann an und weiß sofort, das ist Opa Horst, weißhaarig, braungebrannt, mit Krähenfüßen an den Augen und Lachfalten um den Mund. Er erzählt mir, dass der Ort zu dem ich unterwegs bin Stolpe heißt und fragt ob er mich bis dorthin begleiten darf. Nachdem ich ihm versichert habe, dass ich mich über seine Gesellschaft freue steigen wir beide auf unsere Räder und kämpfen uns auf dem Sandweg langsam voran. Als wir etwa die Hälfte der Strecke bewältigt haben bleiben unsere Räder im Sand stecken und wir beschließen bis Stolpe zu laufen. Ein Laster, der von der Baustelle kommend an uns vorbeibraust, wirbelt eine riesige Staubwolke auf.
 
Als sich der gelbe dichte Staub gelegt hat weist Opa Horst auf die Ruine, die vor uns aus dem Wald herausragt und erzählt mir, dass dies der stolpener Grützturm ist. Er berichtet, dass dieser Turm 1130 von den Dänen als Grenzbefestigung erbaut worden war und später als Domizil für Raubritter herhalten musste. Als die Bauern der Umgebung genug von den schlimmen Taten dieser Banditen hatten rottenten sie sich zusammen und griffen die Burg an. Die Bauern hatten mit ihrer Aktion allerdings wenig Erfolg, da sie sich den falschen Zeitpunkt dafür ausgesucht hatten. Die Raubritter fühlten sich offensichtlich beim Mittagessen gestört und schütteten aus Wut darüber den Angreifern den heißen Grützbrei, den es an diesem Tag zu essen gab, auf die Köpfe und schlugen die Bauern damit in die Flucht. Ich bin nicht nur von dieser Geschichte fasziniert, sondern auch von Opa Horst selbst und seiner bedächtigen und humorvollen Art zu erzählen. In seiner liebenswürdigen Manier, hat er mir gerade ein Stück lebendige Geschichte vermittelt. Dieser Turm ist jetzt nicht mehr nur irgendein altes Gemäuer für mich, es hat durch Horsts Erzählung etwas Individuelles bekommen. Manchmal braucht man nicht lange um einen Menschen wirklich zu mögen. Ich bedaure es sehr, als sich unsere Wege in Stolpe trennen, denn am liebsten würde ich mir diesen freundlichen, verschmitzten alten Herrn unter den Arm klemmen und mit nach Hause nehmen.
 
Bin ich froh, dass mir heute niemand mehr anmerkt, dass ich einmal extrem schüchtern war. Das ist zwar eine Ewigkeit her, trotzdem erinnere ich mich nicht gerne an die Zeit, als es mir schwer gefallen ist, Kontakte zu knüpfen. Inzwischen liebe ich die Begegnungen mit den Menschen, die ich kennen lerne und diese Begegnungen sind für mich deshalb so reizvoll, weil sie auch eine Art Entdeckungsreise sind, wobei ich zwar kein unbekanntes Gebiet erforsche dafür aber mit einem fremden Menschen vertraut werde. Ich bin stolz auf mich, dass ich gelernt habe auf Menschen zuzugehen, denn früher haben mir die meisten Menschen Angst eingeflößt. Es waren jedoch nicht nur die Menschen, vor denen ich Angst hatte. Inzwischen bin ich glücklich, dass die Zeiten hinter mir liegen, in denen mich die Angst so eingeengt hatte, dass ich am Leben überhaupt keine Freude mehr verspürte.
 
* * *
 
Ich hatte jedoch überhaupt nicht so stark wahrgenommen, dass die Ängste mein Leben total vereinnahmt hatten. Erst während der Therapie erfuhr ich, dass Angst im Grunde genommen ein ganz normales Gefühl ist, ein notwendiger Instinkt, der alle Lebewesen vor Gefahren warnt und den Körper in Alarmbereitschaft versetzt um das Überleben zu sichern. Es ist vollkommen natürlich Angst, zum Beispiel vor einem Sprung vom Zehnmeterturm oder einem Raubüberfall, zu haben. Nur, wenn die Furcht unbegründet ist und dass Leben eines Menschen völlig beherrscht, dann ist sie krankhaft und muss behandelt werden. Vielleicht habe ich deshalb den Tinnitus bekommen, denn die Angst hatte mich, bevor ich zur Therapie ging förmlich umzingelt. Ich hatte Verlustängste und Angst davor mich entscheiden zu müssen. Außerdem hatte ich Angst vor Kritik und auch davor den hohen Erwartungen meiner Mitmenschen nicht gerecht werden zu können. Mich ängstigen auch heute noch Perfektionisten, denen man nie etwas recht machen kann. Zudem machen mir Menschen Angst, die sich ein Urteil über Handlungen ihrer Zeitgenossen anmaßen ohne deren Situation zu kennen oder solche, die alles, was sie nicht verstehen, dumm finden und deshalb vehement ablehnen oder verspotten. Statt Schwierigkeiten als Herausforderungen anzunehmen hatte ich mir aus Ziegeln der Angst unüberwindliche Mauern gebaut und innerhalb dieser Mauern saß ich fest, wie in einem selbst errichteten Gefängnis.
 
Auch Vorurteile sind Angstmacher und echte Lebensfreudekiller. Sie gleichen hohen, starken und fest gefügten Mauern da sie demjenigen, der sie errichtet eine trügerische Sicherheit geben, indem sie die Welt auf ein kleines und überschaubares Stück seines Bewusstseins eingrenzen. Sie sperren die Freude an allem Neuen und Fremden aus und verhindern so einen Blick auf das große Unbekannte, das vor diesen Mauern drohend lauert. Außerdem sind Vorurteile bequem. Da sie aus Angst gezeugt und aus Unwissenheit geboren sind und zum größten Teil auf Hörensagen beruhen müssen sie auch nicht durch Fakten berichtigt werden. So wird diese Intoleranz für jeden, der mit ihr lebt zu einem wuchtigen und unüberwindlichen Wall zur Außenwelt, durch den nichts Unvorhergesehenes eindringen kann bis das Leben immer ärmer wird, weil darin kein Platz mehr für überraschende Begegnungen oder spontane Momente ist. Dieses Leben gleicht einem düsteren muffigen Raum, in dem lange nicht gelüftet wurde. Da offensichtlich kein Mensch ganz ohne Vorurteile leben kann ist es wichtig, dass man sie erkennt und sich die Sehnsucht bewahrt, das Fenster des Raumes öffnen zu wollen um Licht, frische Luft und Blütenduft herein zu lassen. Wenigstens ab und zu sollte man neugierig genug zu sein um hin und wieder einen Blick über die Vorurteilsmauern, die den Horizont auf wenige, spärliche und kleinliche Selbsttäuschungen begrenzen, auf das wirkliche Leben werfen zu wollen. Dann ist das Dasein wieder eine große Sache, ein buntes und spannendes Abenteuer.
 
Leider gibt es nur einen Weg, um seine Ängste zu besiegen, man muss sich ihnen stellen und das tun, wovor man Angst hat, wenn man im Leben etwas erreichen will. Das ist mir nicht leicht gefallen, denn die Natur hat uns Menschen mit drei Möglichkeiten ausgestattet um mit beängstigenden Situationen umzugehen. Wir verfügen über einen Fluchtreflex und einen Totstellreflex und ich gebe zu, dass diese beiden Reflexe bei mir sehr stark ausgeprägt sind. Es kostet mich auch heute noch große Überwindung nicht vor jeder Schwierigkeit davonzulaufen oder mich abzuducken und dabei zu hoffen, dass die Gefahr schon irgendwie an mir vorüber gehen und ein Problem sich von alleine lösen wird. Mit diesen beiden Möglichkeiten habe ich jedoch sehr schlechte Erfahrungen gemacht, denn jedes Problem, vor dessen Lösung ich mich drücke, wird von anderen Menschen gelöst und dabei bleiben meine Interessen zwangsläufig unberücksichtigt. Die dritte Möglichkeit einer Gefahr zu begegnen ist der Kampf. Auch wenn ich mich anfangs innerlich noch immer sträube, hat sich herausgestellt, dass ich die größten Erfolge erziele, wenn ich mich für meine Belange stark mache und mich für meine Ziele einsetze. Mir ist auch bewusst, dass ich dabei auf die Hilfe anderer Menschen angewiesen bin und es ist unglaublich, wie gut es für mein Selbstvertrauen ist, wenn es mir wieder einmal gelungen ist, etwas zu erreichen, weil ich meinen inneren Schweinehund überwunden habe.
 
Angst fürchtet Veränderung, wie der Teufel das Vaterunser und ich kuschele mich deshalb gern in Wunschvorstellungen und liebgewonnene Gewohnheiten. Merkwürdigerweise ist es mir nicht schwer gefallen mich, meinen Standpunkt, bestimmte Einstellungen und Vorurteile zu ändern, seitdem ich in der Therapie gelernt hatte, das ich das zu meinem eigenen Vorteil tat und nicht, um den Therapeuten zu einem Erfolgserlebnis zu verhelfen. Aber auch, wenn ich die Theorie noch so perfekt im Kopf habe in manchen Situationen versuche ich mich immer noch um Entscheidungen herum zu mogeln. Ich denke immer noch viel zu lange darüber nach, ob eine Entscheidung richtig ist, obwohl ich doch ganz genau weiß, dass es DIE richtige Entscheidung nicht gibt. Ob ich die richtige Alternative zwischen mehreren Möglichkeiten gewählt habe zeigt sich meist erst in der Zukunft und selbst wenn eine Entscheidung für einen bestimmten Moment passend erscheint, kann sich später immer noch herausstellen, dass es die Falsche war. Diese Schwierigkeit mich zwischen mehreren Lösungsmöglichkeiten nicht entscheiden zu können kommt auch daher, weil ich nur schwer damit klar komme, dass Verstand und Gefühl bei mir meist keine Einheit bilden und ich fühle mich daher bei vielen Entscheidungen innerlich zerrissen. In diesen Konflikten wünschte ich mir manchmal, meine Gefühle einfach abschalten zu können. Nach solch einer Äußerung empfahl mir meine Therapeutin, ich solle mir doch einmal eine Theateraufführung ohne große Gefühle vorstellen und, ob eine solche Vorstellung ohne alle Leidenschaften nicht sterbenslangweilig wäre. Sie erklärte mir auch, dass es nicht unnatürlich ist, wenn einem Menschen für ein Problem mehrere Lösungsmöglichkeiten einfallen, nur entscheiden muss ich mich. Dieser Rat machte mir Mut Entscheidungen auch einmal aus dem Bauch heraus zu treffen. Einen Fehler versuche ich allerdings tunlichst zu vermeiden, nämlich mich über das Urteil anderer Menschen zu ärgern. Ist ihnen auch schon aufgefallen, dass die ANDEREN Ihre Entscheidung meist viel besser beurteilen können? Als ich noch als Köchin gearbeitet habe, haben sich meist diejenigen über das Essen beschwert, die selbst nicht kochen konnten. Und über die bedeutungsvollen Entscheidungen, urteilen nur die Menschen ungehalten, denen in ihrem Leben noch nichts Schlimmeres passiert ist, als das ihnen der Bus vor der Nase weggefahren ist. Ich behaupte, dass kein Mensch mit einem bisschen Lebenserfahrung die Entscheidung eines anderen in Frage stellt. Auch, wenn diese Aussage etwas übertrieben scheint und eher ironisch gemeint ist, hat sie mir sehr dabei geholfen mich über ungerechtfertigte Kritik nicht mehr zu kränken. Daher „liebe“ ich Nörgler und Besserwisser über alles, die selbst für eine schwierige Situation keine Lösung finden müssen, die auch die Hintergründe nicht kennen, aber im Nachhinein wesentlich besser als jeder andere beurteilen können, wie perfekt ihre Entscheidung gewesen wäre.
 
Kennen Sie auch Aussprüche wie diesen: „Das haben wir schon immer so gemacht.“ oder: „Das tut man nicht.“ oder: „Alle machen das so, nur du musst eine Ausnahme machen.“? Und hatten Sie dann auch, nur weil Sie eine andere Vorstellung hatten, wie etwas zu tun war, das Gefühl ausgeschlossen zu werden oder der größte Idiot zu sein? Irgendwann habe ich mich gefragt, wer man, jeder, alle oder die anderen sind. Ich bestimmt nicht. Ich bin ich und habe meine eigene Herangehensweise und meine Vorstellungen. Und die darf ich auch haben. Je mehr ich lernte mich selbst zu verstehen, umso leichter viel es mir an mir selbst sympathische Eigenschaften zu entdecken und war daher nicht mehr so abhängig von dem Urteil meiner Mitmenschen. Ich merkte, dass ich nicht verpflichtet bin mich mit den Augen meiner Kritiker zu sehen und, dass wenigstens ich mich sympathisch finden darf. Natürlich war dieses schlechte Selbstbild, das ich von mir hatte auch darum entstanden, weil ich bei meinen Versuchen zu erraten, was die Anderen von mir erwarten ständig total daneben lag und mir bei den Bemühungen, diesen Erwartungen auch noch entsprechen zu wollen die dümmsten Fehler unterliefen. Inzwischen stehe ich auf dem Standpunkt, dass es nicht der Sinn meines Lebens sein kann, die überzogenen Erwartungen anderer Menschen zu erfüllen. Ich tue das, was mir in einer Situation angemessen erscheint und auf die Art, die ich für richtig halte. Es gibt Menschen, die immer etwas auszusetzen haben. Diesen Menschen kann man es jedoch sowieso nicht recht machen und so habe ich wenigstens die Gewissheit, dass meine Handlung für mich die richtige ist. Diese Sicherheit gibt mir dann die Kraft auch mal eine ungerechtfertigte Kritik auszuhalten und seitdem habe ich auch nicht mehr ständig das Gefühl alles falsch zu machen.
 
Da ich am eigenen Leib gespürt hatte, wie belastend es ist, wenn man sich durch seine Ängste eingrenzen lässt begann ich für mich eine Strategie dagegen zu entwickeln. Durch lesen und ausprobieren fand ich für mich eine Herangehensweise, wie ich meine Probleme angehen und mich damit Stück für Stück von meinen Ängsten befreien konnte. Dabei war ich natürlich nicht auf mich allein gestellt, denn was ich nicht von den Therapeuten lernte, las ich in Büchern nach. Was ich im Folgenden schreibe ist also nicht auf meinem Mist gewachsen, aber ich habe es ausprobiert und gute Erfahrungen damit gemacht.
 
Da ich ein kluger Mensch bin, der vorausschauend denkt, neige ich dazu mir greifbar nahe Hindernisse und Katastrophen zu schaffen, die meistens nicht eintreffen. Je mehr ich mir darüber Gedanken machte, was alles schief gehen kann, umso schwieriger war es für mich überhaupt etwas zu tun. Wenn ich mir nicht ganz sicher sein konnte etwas perfekt zu machen, ließ ich es lieber bleiben. Diese Verhaltensweise verhinderte, dass ich mich für meine Ziele und Wünsche einsetzte. Deshalb erreichte ich natürlich nichts und fühlte mich mickrig und unglücklich. Oder, wenn ich es tatsächlich schaffte etwas zu unternehmen, dann hatte ich, weil ich die Folgen nicht in Betracht zog, keinen Erfolg, was mir wiederum den Mut zum Handeln nahm. In Dale Carnegies Buch „Sorge dich nicht - lebe!“, fand ich dann eine Anregung, die mir weiterhalf. In diesem Buch schreibt der Autor, dass man sich in beängstigenden Situationen immer auf das Schlimmste gefasst machen soll. Man soll sich damit abfinden und danach alles in seiner Macht stehende tun um zu verhindern, dass es eintrifft. Ich finde diesen Gedanken genial, nicht nur, weil es so einfach ist, sondern auch, weil man an die Lösung seiner Probleme viel entspannter herangeht. Die Tatsache, dass man das Schlimmste bereits akzeptiert hat ist wie ein Sicherheitsnetz, denn dann stellt man meistens fest, dass das Leben trotzdem weiter gehen wird. Seitdem habe ich immer einen Plan B im Hinterkopf, für den Fall, dass ich Plan A nicht umsetzen kann. Sieben Jahre lang bekam ich jeden Morgen Magenkrämpfe bei dem Gedanken auf Arbeit gehen zu müssen. Die Furcht wegen meiner Fehler entlassen zu werden hatte sich auf meinen Magen geschlagen. Davon abgesehen, dass eine Kündigung für mich gleichbedeutend mit sozialem Abstieg war hatte ich mich auch in eine unhaltbare Situation hineinmanövriert. Durch die hohen Kredite, die auf unserem Haus lasteten, löste der Gedanke an eine Kündigung Existenzangst in mir aus. Was sollte denn werden, wenn wir die hohen Raten nicht mehr abzahlen konnten? Dadurch, dass ich den Gedanken an eine Kündigung nicht akzeptieren konnte und vor Angst nicht mehr weiter wusste, konnte ich auch nicht sehen, dass es noch viele andere Möglichkeiten gab. Zwar suchte ich nach einer neuen Arbeit, war aber nicht genügend informiert um etwas zu finden und deshalb hielt ich so lange es ging durch. Erst später, nachdem mir mein Arbeitgeber gekündigt hatte, stellte ich fest, dass die Situation arbeitslos zu sein zwar schlimm, jedoch nicht halb so bedrohlich war, wie ich mir das immer vorgestellt hatte.
 
Noch wichtiger, als das Schlimmste zu akzeptieren, dass einem passieren kann ist es, sich einen Menschen zu suchen mit dem man über seine Probleme reden kann. Das kann ein Familienangehöriger sein, ein Freund oder ein völlig Fremder, Hauptsache man hat jemanden, der einem dabei hilft die Last zu tragen. Für mich war es immer wieder sehr entspannend die Erfahrung zu machen, wie übersichtlich auch die scheinbar unüberwindbarsten Schwierigkeiten dadurch wurden. Wenn man nämlich mit einem Partner über seine Probleme spricht, muss man seine Gedanken ordnen und für den anderen verständlich mitteilen. Und mir ist es oft passiert, dass mir noch während des Gespräches eine Lösung schlagartig klar wurde und war erstaunt, wie einfach diese im Grunde dann immer war. Nachdem ich eine Lösung gefunden hatte, war die Überwindung, diese dann in die Tat umzusetzen nicht mehr halb so groß, als zu der Zeit als ich nicht über meine Probleme reden konnte.
 
Es ist für mich eine befremdliche Erscheinung, dass heutzutage alle Welt darüber jammert, dass die Hilfsbereitschaft unter der Bevölkerung stark abgenommen hat und jedermann stillschweigend voraus setzt, dass seine Mitmenschen automatisch sehen müssten, wann jemand Hilfe braucht. Das mag bei einem Verkehrsunfall richtig sein, aber ansonsten ist Hilfe zu geben keinesfalls mehr eine Selbstverständlichkeit, denn jeder Mensch ist mit sich und der Bewältigung seiner täglichen Aufgaben viel zu beschäftigt, als dass er zwangsläufig sieht, wann Hilfe benötigt wird. Ich hatte immer wieder den Eindruck, dass meine Mitmenschen sogar gerne ihren Trott unterbrachen um mir behilflich zu sein und sich danach sogar noch einige Minuten Zeit genommen haben um sich mit mir zu unterhalten. Aber, auch wenn es mich noch so große Überwindung gekostet hat, ich musste sie darauf ansprechen und sie um Hilfe bitten, denn während ich still in einer Ecke stand und darauf wartete, dass irgendeinem Menschen auffiel, dass ich Hilfe brauchte passierte nichts.
 
Inzwischen habe ich herausgefunden, dass es mir großen Spaß macht etwas auszuprobieren, wenn ich etwas lese oder von anderer Seite Empfehlungen oder Anregungen bekomme. Manches passt zu mir und ich behalte es bei oder ich komme damit nicht zurecht, dann war es eben ein Versuch mir das Leben angenehmer zu machen und ich habe meine Ängste dadurch zum größten Teil abgebaut. Auch dass ich nicht perfekt bin stört mich nicht mehr, denn gerade dem Umstand, dass ich es nicht bin, verdanke ich, dass ich am Leben bin, denn wäre vor zwanzig Jahren alles wie geplant gelaufen, gäbe es mich nicht mehr.
 
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Ab Stolpe ist in Richtung Schwedt eine Umleitung ausgeschildert. Diese führt zunächst auf einer Asphaltstraße eine mehrere Kilometer lange Steigung empor. Während die Hauptstraße geradeaus weiter führt, biegt der Radweg nach rechts ab. Auf einem Feldweg sause ich wieder bergab. Auch auf diesem Weg sind Betonplatten verlegt. Allerdings nichts neues, die Platten sind alt und haben schon einige Winter überlebt, was ihre Beschaffenheit nicht verbessert hat. Durch die weiten Zwischenräume entsteht ein rhythmisches Geräusch ähnlich, wie beim Zug fahren. Bab bab ratatatam, bab bab ratatatam klingt es unheilvoll und allmählich habe ich Angst um meinen Hinterreifen, denn auf diesem liegt das Gewicht meiner Sachen, des Zeltes und des Schlafsackes und auch ich wiege einiges. Bab bab ratatatam, bab bab ratatatam, das ist wie ein Lied, dessen Refrain einem unaufhörlich in den Ohren tönt, bab bab ratatatam, bab bab ratatatam, wehe wenn in dieser Einöde das Tretross streikt, ich habe zwar Werkzeug aber keinen Reifen zum wechseln dabei. Aus welchem Grunde habe ich nur das Gefühl, dass Gefahr droht? Die Befürchtung, dass etwas mit dem Reifen nicht in Ordnung ist, macht mich vorsichtig und als ich in Schwedt vor der Touristeninformation anhalte, um Kartenmaterial für die Weiterfahrt zu erwerben, zeigt mir ein zufälliger Blick auf das Hinterrad, dass in dem Gewebe des Reifens tatsächlich ein breiter Riss klafft.
 
Bin ich froh, dass ich es ohne Panne bis hierher geschafft habe! Von dem freundlichen Mitarbeiter in der Touristeninformation lasse ich mir gleich noch den Weg in die nächste Fahrradwerkstatt erklären. Ich habe auch dort wieder Glück, denn der Fahrradmonteur beginnt sofort mit der Reparatur meines Drahtesels. Bis er damit fertig ist nutze ich die Zeit um ein Eis zu schlecken und einige Postkarten an meinen Freund, die Familie und die Arbeitskollegen zu versenden.
 
Als ich auf dem Zeltplatz in Mescherin ankomme ist es schon spät. Deshalb beeile ich mich damit bei dem Platzwart die Gebühr für die Übernachtung zu bezahlen. Von diesem erfahre ich, dass außer mir nur noch ein anderer Camper hier übernachtet. Es ist ein Herr, der diesen Zeltplatz als Ausgangspunkt für die Fahrten mit seinem Motorrad benutzt. Ich bin erleichtert, denn gerade am Abend ist es angenehm, wenn man die verbleibende Zeit mit einem anderen Menschen verplaudern kann.
 
Es beginnt schon zu dämmern, als der Motorradfahrer die Auffahrt hinauf gefahren kommt. Als er die schwere Maschine neben seinem Zelt abstellt, laufe ich zu ihm hinüber und frage ihn, ob er noch ein wenig Zeit hat mir Gesellschaft zu leisten. Wir schlendern zu den Tischen und Stühlen, die vor dem Wohnwagen des Platzwartes stehen, wischen den Tau von den Sitzen und Karl zündet sich eine Zigarette an. Nach fünf Minuten haben wir uns alles Wissenswerte über uns erzählt. Ich weiß inzwischen, dass Karl Ende Fünfzig ist, dass er in Berlin lebt und bis vor kurzem den Beruf eines Goldschmiedes ausgeübt hat. Er genießt seinen verdienten Vorruhestand und unternimmt Tagestouren auf seinem Motorrad in die Uckermark, eine Landschaft, die uns beide beeindruckt. Jetzt ist es still geworden. Nachdenklich sitzt Karl in seiner Motorradkluft neben mir, pustet Rauchkringel in die beginnende Nacht und mitten in die sich schnell ausbreitende Dunkelheit hinein sagt er: „Man könnte davon besoffen werden“. Überrascht nicke ich. Karl hat mit diesem einen kurzen Satz alle Empfindungen auf einen Punkt gebracht.
 
Meine Güte, denke ich, wozu will ich mich hinsetzen und ein Buch schreiben, wenn sich der Sinn des Lebens so leicht definieren lässt? Ich spüre diesem Satz nach, spüre die Stille und lasse diese Bemerkung tief in mich hinein sinken, denn Karl hat recht, diese Art und Weise zu reisen ist Leben für mich und ich bin süchtig, begierig darauf das Unbekannte hinter der nächsten Wegbiegung zu entdecken, süchtig nach den wechselnden Eindrücken und neugierig auf die Menschen, die mir unterwegs begegnen. Es ist schon vorgekommen, dass ich keine Erschöpfung gespürt habe und immer noch weiter fahren konnte, weil die Landschaft so einzigartig und wunderschön war. Aus Freude am Unterwegsein fühle ich mich lebendig und voll Begeisterung, das Ziel ist nicht wichtig, nur der Weg dahin. Oh ja ich bin berauscht, betrunken vom Leben und einfach froh, hier zu sitzen, zufrieden mit meinem Tagewerk und einem verständnisvollen Menschen neben mir. Einträchtig schweigen wir in den nächsten Minuten, bevor wir uns von einander verabschieden.