Zwei Zentimeter

Als mein Freund Jörg und ich die Wehrmachtsausstellung in Leipzig besichtigten war ich mit der dort angebotenen Informationsflut bereits nach kurzer Zeit völlig überfordert. Auf den Informationstafeln reihten sich Jahreszahlen und Ereignisse aneinander und es dauerte nicht lange, da war ich gestresst und erschöpft. Die vielen Gräueltaten, die vielen Toten blieben für mich unfassbar, vielleicht weil ich nur ein Leben habe - nämlich meins und auch nur einen Tod - nämlich meinen. Irgendwann ging ich nur noch durch die Reihen der Informationstafeln hindurch, ohne zu lesen und ohne einen weiteren Versuch zu unternehmen diesen Wahnwitz erfassen zu wollen. Plötzlich viel mir die Fotografie einer jungen Frau auf. Historische Portraits interessieren mich und so ging ich näher heran, um zu sehen, was es für eine Bewandnis damit hatte. Es war die gut gelungene Schwarz-Weiß-Aufnahme einer etwa dreißig Jahre jungen, sehr gut aussehenden Stalingraderin und daneben befand sich das Foto einer Frau Mitte Sechszig. Erst als ich mir die Erläuterungen durchlas, die zu den Lichtbildern gehörten, stellte ich fest, dass es ein und dieselbe Person war, die darauf abgebildet war. Den genauen Sachverhalt habe ich vergessen. Ob nun die erste Fotografie vor der Belagerung Stalingrads und die andere danach oder ob die Schnappschüsse vor Beginn und nach Ende des zweiten Weltkrieges angefertigt wurden, weiß ich nicht mehr, es scheint mir auch völlig unwichtig. Der zweite Weltkrieg hatte insgesamt sechs Jahre gedauert, die Frau jedoch nach diesem, wie eine Greisin ausgesehen, obwohl sie auf dem zweiten Foto nicht mehr als zehn Jahre älter war, als auf dem Ersten. Diese beiden Aufnahmen erzählten ohne Worte eine eindrucksvolle Geschichte, die ich begreifen konnte: es war die Geschichte einer Frau, der im Krieg dreißig Jahre ihres Lebens gestohlen worden waren.

Nun bin ich bestimmt nicht der einzige Mensch, zumindest nicht die einzige Frau, der nüchterne Fakten nichtssagend erscheinen. Mir waren schon immer Geschichten wichtiger um Ereignisse zu begreifen, die nur mit Vernunft nicht zu verstehen sind. Hierzu passt die folgende Begebenheit, die ich bei meiner Oma Hella, Vatis Mutti erlebte:

Im Geschichtsunterricht wurde uns Schülern gern das Bild vermittelt, als wäre es möglich gewesen im zweiten Weltkrieg durch mutiges Verhalten und Parteiergreifen irgendetwas an den geschichtlichen Ereignissen ändern zu können. Im Nachhinein lässt es sich immer gut urteilen oder gar verurteilen und es wäre ja wohl das Gleiche, als würde uns Ostdeutschen jemand den Vorwurf machen wollen, dass wir gegen das DDR-Regime nicht aufbegehrt haben. Dies haben die meisten von uns nicht getan, weil niemand ahnen konnte, dass der Staat 1990 Geschichte sein würde. Natürlich haben wir versucht aus allem das Beste zu machen und mit den Zuständen irgendwie klarzukommen. Etwas anderes haben die Menschen in den dreißiger Jahren im Naziregime auch nicht getan.

Heute würde ich Ihnen raten zu einem Fachmann zu gehen, wenn Sie Hilfe bei der Lösung eines Problems suchen. Wenn Sie zum Beispiel eine Uhr repariert haben wollen, sollten Sie diese zu einem Uhrmacher bringen, wenn Sie Licht in Ihrer Wohnung haben wollen, sollten Sie einen Elektriker damit beauftragen, wenn Sie rechtlichen Rat benötigen sollten Sie einem Rechtsanwalt aufsuchen und, wenn sie etwas über vergangene Zeiten wissen wollen, dann müssen sie Menschen fragen, die zu dieser Zeit gelebt haben, wenn das noch möglich ist. Diese Erfahrung hatte ich zum damaligen Zeitpunkt noch nicht. Als Kind hatte ich jedoch offensichtlich noch Instinkt und tat deshalb das Richtige. Eines Tages besuchte ich Oma Hella nach der Schule, die, wie immer singend und fleißig bei einer Arbeit in der Küche anzutreffen war. Neugierig, wie ich nun einmal bin, fragte ich sie, was ihre Familie früher denn getan hätte, um die Zustände im Deutschen Reich zu ändern und die alte Dame reagierte einfach klasse. Sie regte sich nicht auf sondern erzählte mir ganz ruhig, wie sie eines Tages, als junge Frau mit Hausarbeit beschäftigt war, als es klingelte. Sie öffnete die Wohnungstür vor der zwei SS-Männer standen, die meinen Opa sprechen wollten. Hella-Oma muss vor Angst das Herz in die Magengegend gerutscht sein, aber davon sagte sie nichts, sie erzählte nur, wir froh sie war, dass Opa gerade nicht zu Hause war. Die beiden Herren in ihren langen schwarzen Ledermänteln sahen sich an, fragten nach Opas Größe und als sie Omas Antwort gehört hatten erklärten sie, dass sich die Angelegenheit erledigt habe. Die Nazis hatten Opa in die SS werben wollen. Weil er jedoch zu klein war, wollten sie ihn in diesem Verein nicht haben und gingen unverrichteter Dinge wieder. Selbst nach all den vergangenen Jahren konnte ich spüren, wie schwer der Felsbrocken war, der Oma vom Herzen gefallen sein musste, als sie die SS-Männer wieder verschwinden sah. „Zwar mussten die Männer nicht eine Größe von 1,88 Meter haben, wie die langen Kerls im Eliteregiment des alten Fritz, aber Gott sei Dank waren in der Waffen-SS immerhin nur Männer gefragt, die 1,70 Meter oder größer waren. Mein Mann war nur 1,68 Zentimeter groß und dieser Zufall hat ihn davor bewahrt «nein» sagen zu müssen.“ „Was hätten wir denn tun sollen?“ fragte sie mich, nach kurzem Überlegen. „Wäre Kurt nicht zufällig zwei Zentimeter zu klein gewesen und hätte sich geweigert da mitzumachen, wäre er ins KZ gekommen und was sollte dann aus seiner Familie werden?“

„Denkst Du nicht“ fuhr Oma Hella fort und jetzt konnte ich ihrer Stimme anhören, dass sie allmählich doch wütend wurde, „dass die meisten Menschen entweder aus Angst vor Strafe oder aus Unkenntnis der Umstände zu Helden werden? Die meisten Menschen sind nun einmal nicht zum Helden oder gar Märtyrer geboren und deshalb darf man sie nicht verurteilen. Ich weiß ja nicht, was eure neumalklugen Lehrer euch erzählen, aber ich denke sowieso, dass ein Mann, der ohne in Lebensgefahr zu geraten nicht zu äußern wagen darf, dass er sein Leben liebt und darum lieber auf seine „Feinde“ schießt, statt ins Gefängnis zu gehen kein Held ist, sondern ein Pragmatiker, denn an der Front werden Soldaten von ihren eigenen Kommandeuren erschossen, wenn sie versuchen vor dem Feind zu flüchten. Glaubst du nicht, dass Menschen, wie Euer Superheld Ernst Thälmann oder die Geschwister Scholl schön ihren Mund gehalten haben würden, wäre ihnen bewusst gewesen, dass sie mit ihren Bekenntnissen ihr Leben in Gefahr brachten? Das waren leichtsinnige junge Leute, die ihre politische Anschauung gegen das Naziregime laut heraus posaunten und einfach die Gefahr nicht erkannten, als sie ihre Meinung unbedacht gegenüber den Falschen äußerten und sich plötzlich in der Bredouille befanden. Weil sie sich dagegen nicht mehr wehren können werden sie jetzt von der Nachwelt zu Helden verklärt, um allen Unentschlossenen ein schlechtes Gewissen einzureden, wenn sie einfach nur überleben und in Ruhe gelassen werden wollen.“ Aufgebracht setzte sie hinzu: „Und was haben sie nun davon gehabt?“

Über diese Frage habe ich sehr lange nachgedacht.


PS: Ich habe auch noch über etwas anderes nachgedacht: Meine Mutti stöbert gern in alten Unterlagen       und zeigte mir, nachdem sie meine Geschichte gelesen hatte, eine Schrift, aus der hervorging, dass       mein Opa sehr wohl in der SS gewesen ist. Meine Oma hatte gelogen, weil wir auch zu DDR-Zeiten in     einem Regime gelebt haben, in dem wir lieber den Mund über solche Sachverhalte hielten. Sie wollte        garantiert nicht, dass ich Naseweis in der Schule herausposaunte, dass mein Opa Mitglied der SS          war, weil sie keine schlafenden Hunde wecken wollte.