Die beste Zeit einen Baum zu pflanzen war vor zwanzig Jahren. Die zweitbeste Zeit ist jetzt.
 
chinesisches Sprichwort
 
 
Der Vorsatz, darüber zu schreiben, wie ich mein Leben nach meinem Selbstmordversuch gemeistert habe und wie man seinen inneren Frieden und einen Platz im Leben findet, entstand an einem ungemütlichen Herbsttag, an dem ein Ereignis eintrat, das sich in meine Seele einbrannte und mich seitdem nicht mehr losgelassen hat.
Es war ein Freitag im November und ich war mit der S-Bahn unterwegs zu meinem Freund. Ich hatte nur den einen Wunsch aus der Kälte, der Nässe und der Dunkelheit in seine warme, gemütliche Wohnung zu kommen. Auf dem Leipziger Hauptbahnhof musste ich umsteigen. Der Anschlusszug nach Zeitz fuhr nicht. Es fuhren überhaupt keine Züge mehr. Auf dem Bahnhof wurde es mit einem Mal hektisch. Eine Mitarbeiterin der Bahn, die ich fragte, was denn los sei, gab mir die Auskunft, dass sie das zwar so genau auch nicht wisse, aber annahm, dass sich wahrscheinlich mal wieder einer auf die Schienen gelegt hat. Sie war sehr ärgerlich, das da einer keine Lust mehr zu leben hatte, sich deswegen vor einen Zug warf und für ein paar Stunden den gesamten Zugverkehr in der Region lahm legte. Sie hielt das für eine Unverschämtheit und bedauerte den Lokführer, der dieses Erlebnis bestimmt nicht so schnell verkraften würde.
 
Als ich in Zeitz ankam war mein Freund nicht zu Hause. Ich machte kein Licht, ließ die Tasche im Flur aus der Hand fallen, rollte mich auf dem Sofa zusammen und weinte hemmungslos. „Warum“, dachte ich „bist du nicht zu mir gekommen? Ich hätte dich in den Arm genommen, dich angeschrien und durchgeschüttelt und dir erzählt wie schön das Leben ist.“ Ich weiß, dass diese Gedanken unlogisch sind, denn dem Menschen war ich ja vollkommen fremd. Mir war jedoch so elend zumute, dass mir diese Unstimmigkeit völlig egal war. Zu diesem Zeitpunkt war es etwa 21 Jahre her, dass ich versucht hatte eines meiner Probleme mit einer Überdosis Schlaftabletten zu lösen und in diesen ganzen Jahren war ich niemals derartig mit den Auswirkungen meines Handelns konfrontiert worden. Für mich hatten die verschiedenen Gefühle, die mich durchströmten etwas Aufrüttelndes. Ich war gleichermaßen schockiert von der Ausweglosigkeit in der Situation dieses Unbekannten, seiner scheinbaren Rücksichtslosigkeit gegenüber seinen Mitmenschen und der Verzweiflung, dem Unverständnis und der hilflosen Wut der unmittelbar von seiner Tat Betroffenen. Ich fühlte mich grenzenlos allein und kam mir vor wie ein Zwitter. Einerseits konnte ich mich in diesen Menschen gut hineinversetzen und andererseits hatte ich eine Riesenwut auf ihn, weil er sich keine Hilfe gesucht und so ein gigantisches Durcheinander verursacht hatte. Ich war aufgewühlt und wollte etwas tun um zu verhindern, dass Menschen ihr Leben einfach wegwerfen.
 
Für mich ist Selbstmord schon aus Gründen des eigenen Erlebens ein schwieriges Thema. Ich war siebzehn Jahre alt, als ich versuchte, mit einer Überdosis Schlaftabletten das Chaos zu beenden, in das sich mein Leben seit dem Beginn meiner Lehre verwandelt hatte. Darum habe ich viel über dieses Thema gelesen, schon um zu verstehen, was einen Menschen zu einem derart drastischen Schritt veranlasst. Die Statistiken sind erschreckend. Als ich las, wie viele Menschen nicht mehr weiterleben wollen kam ich mir gar nicht mehr so dumm vor und fühlte mich in guter Gesellschaft. Es sind aber nur Zahlen und es geht wahrscheinlich nicht nur mir so, dass Statistiken mich letztendlich nicht erschüttern, weil sie zu anonym sind. Das geschilderte Erlebnis berührte mich jedoch tief, weil es mir eindringlich die Unwiderruflichkeit einer solchen Tat vor Augen führte.
 
Als ich drei Tage später die Nachrichten hörte, stellte sich heraus, dass sich niemand umgebracht hatte. Zwei junge Frauen waren leichtsinnig über die Schienen eines Bahnhofes gelaufen und eine davon war von einem heranrasenden ICE erfasst und getötet worden. Das änderte an meinem Wunsch, der an jenem Abend Gestalt angenommen hatte jedoch nichts. Selbstmörder stellen sich normalerweise nicht auf die Straße und schreien ihren Frust heraus. Sie haben mit ihrem Tun entweder Erfolg, dann ist Ruhe, wenigstens für sie oder sie überleben, wie ich. An diesem Abend beschloss ich, irgendwann den Mut aufzubringen und alles was ich seit dem Selbstmordversuch erlebt habe aufzuschreiben und den „Ich - fang - dich - auf - und - mach - dir - Mut“ - Bericht zu verfassen. Ich möchte damit ein bisschen Lebensmut, Lebensfreude und Begeisterung auch an andere weitergeben und auf diese Weise meinen Beitrag dazu zu leisten, wenigstens einen Menschen von einem derart drastischen Schritt abzuhalten, denn nur um der Welt und seinen Mitmenschen begreiflich zu machen; dass man keinen Bock mehr auf sie hat muss man sich nicht umbringen. Da gibt es ganz andere Mittel.
 
Ich gebe gern zu, dass ich ein Mensch bin, der Schwierigkeiten hat den ersten Schritt zu wagen und der seinen Problemen gern aus dem Wege geht, statt sie zu lösen. Meist brauche ich erst einen Anstoß um beginnen zu können und der kam dieses Mal in Form des Leipzig-Marathons. Als ich an einem Sonntag im April 2007 nach meinem ersten Zehnkilometerlauf über die Ziellinie lief, wusste ich, dass es Zeit war meinen Plan in die Tat umzusetzen. Ich hatte die Idee dafür schon viel zu lange erfolgreich vor mir hergeschoben. Dieses Ereignis führte mir deutlich vor Augen, wie erfolgreich ich sein kann, wenn ich einfach los laufe. Schließlich konnte ich mir auch nicht vorstellen eines Tages mehr als einen Kilometer am Stück zu laufen, als ich ein halbes Jahr vorher mit meinem Freund in ein Sportgeschäft ging und ein Paar Laufschuhe kaufte.
 
Nun sitze ich vor meinem Computer und suche nach den besten Formulierungen für meine Gedanken. Obwohl ich viele gute Ideen habe, fällt es mir schwer, meine Gedanken in Worte zu fassen, vielleicht, weil das, was ich erzählen will sehr persönlich und mit sehr vielen intensiven Gefühlen verbunden ist. Denn seit dem Zeitpunkt, als ich das Krankenhaus verlassen habe, in dem mir die Ärzte den Magen ausgepumpt haben ist mein Dasein eine große Suche nach meinem Platz im Leben gewesen. Das ich diesen Platz inzwischen gefunden habe ist nicht nur der Verdienst der Menschen, die mir merkwürdiger Weise immer im richtigen Moment über den Weg gelaufen sind und mir mit gutem Rat und Hilfe zur Seite gestanden haben sondern zum allergrößten Teil mein eigener. Ich habe gelernt, die Angebote zu nutzen, die mir das Leben in reichem Maße präsentiert und das man etwas tun muss um etwas zu erreichen. Also, ich möchte das loswerden, denn ich habe seit einiger Zeit das Gefühl auf einem ungeheuer großen Schatz zu sitzen und es gibt nun einmal Reichtümer, mit denen man nicht glücklich wird, wenn man sie nicht mit anderen Menschen teilen kann.
 
Bei einer Radtour durch Deutschlands Osten, die ich im Jahr 2006 ganz allein unternahm, war mir die passende Idee für meinen Lebensbericht eingefallen. Auf so einer Tour fährt man zwischen 50 und 100 Kilometer täglich, Zeit genug also, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Jetzt bin ich bereit über meine Erlebnisse zu schreiben, und möchte Sie einladen an einem spannenden Abenteuer und einer schönen, wenn auch anstrengenden Reise teilzunehmen. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Erfahrungsbericht, denn auch das Leben kann ein spannendes Abenteuer und eine wundervolle und glückliche Entdeckungsreise sein.