IRGENDJEMAND SPIELT IMMER KLAVIER

 

Ein Auto rumpelte über das Pflaster vor dem Haus. In der nächtlichen Stille, hallte dieses Geräusch erschreckend laut durch die Straßen. Erschauernd fuhr ich von meiner Lektüre auf. Mein Blick fiel auf die Uhr, deren Zeiger eine halbe Stunde vor Mitternacht anzeigten. Es war schon wieder einmal viel zu spät und bis zum Happy End würde ich es sowieso nicht mehr schaffen. Ich lese für mein Leben gern Bücher wie dieses, in denen ein Mensch von jetzt auf nachher sein Leben vollkommen umkrempelt. Etwas Aufrüttelndes passiert und er flieht vor dem öde gewordenen Alltag. Geht auf Wanderschaft und tut plötzlich Dinge, die er noch nie getan hat, lernt Menschen kennen, hat Spaß und erlebt ein Abenteuer nach dem Anderen. Meinem Leben könnte ein bisschen Abwechslung auch gut tun, dachte ich. Doch um aus dem täglichen Einerlei auszubrechen fehlte mir nicht nur das nötige Kleingeld, sondern auch der Mut. Ich klappte das Buch zu, gähnte und schloss das Fenster. Obwohl es offen gestanden hatte, seit es am späten Abend etwas kühler geworden war, waren in meinem Zimmer immer noch sechsundzwanzig Grad. Sechsundzwanzig Grad und das eine halbe Stunde vor Mitternacht, dass muss man sich mal vorstellen. Klar, mein Wohnschlafzimmer hat Südseite und wenn im Hochsommer die Sonne den ganzen Tag auf die Fenster knallt, staut sich die Hitze darin. Wenn man doch nur die Wärme für den Winter konservieren könnte! Einfrieren zum Beispiel. Bei den galoppierenden Energiepreisen, wäre das ein guter Gedanke. Im Winter taut man ein paar Wärmewürfel auf und schon wird es kuschelig warm im Raum. Dann wäre es jetzt in meinem Zimmer ein paar Grad kühler und ich würde etwas mehr Schlaf abbekommen. Ich war hundemüde, denn tagelang hatte ich bei der Affenhitze im Raum vor Mitternacht kein Auge zu tun können und wenn morgens um sechs der Wecker klingelte wachte ich mit so einem Drehen im Kopf auf, als wäre ich die ganze Nacht Karussell gefahren.

Am nächsten Morgen verschlief ich. Wie durch einen dichten Nebel hatte ich den Piepton des Weckers wahrgenommen, den Arm ausgestreckt, um den quäkenden Plastikwürfel auszuschalten und mich noch einmal auf die andere Seite gedreht. Als ich aufwachte war es um Neun und ich hätte seit einer Stunde im Büro sitzen müssen. Lustlos setzte ich mich auf. Es war schon jetzt so heiß, dass man schwitzte, wenn man nur Luft holte.

„Ach, ich finde es richtig toll, dass Sie doch noch hergefunden haben.“ spottete der Chef, als ich ins Büro marschiert kam und mich wegen meiner Verspätung entschuldigte. Normalerweise verstehen wir uns ganz gut, aber an diesem Tag ärgerte ich mich über seine Ironie. Ich ging in mein Arbeitszimmer hinüber und verfluchte den Tag, als ich den Stapel Arbeit sah, der hier auf mich wartete. Es sah aus, als hätte seit drei Wochen niemand eine Hand gerührt. Offensichtlich hatte der Herr Linksambusch einen Anfall von Arbeitswut gehabt, einige besonders dringende Sachen bearbeitet und mir die Akten, mit entsprechenden Verfügungen versehen, gleich auf den Schreibtisch gelegt. Auch mein Diktatfach war bis an den Rand vollgestapelt und wie sich herausstellte, waren es lange Bänder und nicht eines dabei, das einen Schriftsatz unter drei Seiten ergab. Ich sah noch einen Moment aus dem Fenster und sann darüber nach, wie wundervoll es jetzt wäre, mich mit einem Buch in der einen und einem kühlen Getränk in der anderen Hand an einen Badesee verkrümeln zu können. Für einen Augenblick hatte ich den Geruch nach Sand, Sonnenöl und Wasser in der Nase. Von diesem Moment an hatte ich keine ruhige Minute mehr. Das Telefon läutete und sobald ich den Höher auflegte läutete es wieder und wenn ich gerade einmal nicht damit beschäftigt war Mandanten zum Chef durchzustellen oder Besprechungstermine mit ihnen zu vereinbaren, klingelte es an der Tür und jemand wollte „nur schnell mal eine Minute mit dem Anwalt reden“ oder kurz einen Antrag abgeben oder Unterlagen aus seinen Akten herausgesucht haben. Es stellte sich als Fehler heraus, noch vor der Mittagspause zum Briefkasten zu gehen. In dem Stapel Briefe war nichts, dass ich gleich hätte in den Papierkorb werfen können: keine einzige Reklamesendung, keine Seminarangebote, keine neuen Gesetzesausgaben, die angekündigt wurden. Die Gerichte schienen unter Hochdruck zu arbeiten und die Anwälte der Gegner hatten es offensichtlich darauf abgesehen, uns Sachen zu schicken, die brandeilig waren und am besten bereits vorgestern hätten beantwortet werden müssen. Bis ich die Stunden nachgearbeitet hatte, die ich zu spät gekommen war, war nicht eine Minute Zeit durchzuatmen, ganz zu schweigen davon, mich darüber zu ärgern, dass ich von zu Hause losgestürmt war, ohne mir etwas zum Essen einzupacken. Ich kam einfach nicht dazu. Als ich nach Feierabend das Büro abschloss war es zu spät, um noch baden zu fahren. Lustlos schleppte ich mich durch die kochenden Häuserzeilen der Stadt. Die aufgeheizten Wände strahlten die aufgespeicherte Hitze auf die Straßen zurück. Die Luft stank nach den Abgasen, der vorbeifahrenden Autos. Mir klebte die Zunge am Gaumen und mein Kopf schmerzte, als versuchte jemand, ihn mit einem Beil in drei Hälften zu spalten.

Doch dann wehte mir der Wind einen Fetzen Musik ins Ohr. Unvermittelt hielt ich inne. Wie ein erfrischender Wasserstrahl plätscherten aus einem Fenster einige Töne. Jemand spielte Klavier. Leicht und leise klimperte der Spieler eine Tonleiter hinauf und hinunter. Danach folgte eine kleine fröhliche Melodie. Auf der Kastanie, neben der ich stand hüpften die Noten von Zweig zu Zweig, wie die Spatzen, die sich darauf tummelten. Als das dritte Stück angestimmt wurde begann ich leise mitzusummen: didadidadidadidadam, didadam, didadam…. Wehmütig bahnte sich die Melodie ihren Weg in den Sommerabend. Ich sah nach oben und beobachtete weit über mir ein Flugzeug. Wohin flogen die Menschen, die darin saßen? Nach New York? Oder Gran Canaria? Ein sanfter Luftzug umschmeichelte meine Schultern. Mit einem Mal war der Himmel unendlich weit, der beginnende Abend heiter, der Kopfschmerz vergessen. Jemand spielte Klavier. Ich klatschte Beifall, als der letzte Ton verklungen war. Ein vielleicht zehnjähriges Mädchen kam an ein Fenster in der ersten Etage, neugierig, wer ihrem Spiel gelauscht hatte. Sie nickte mir lächelnd zu, ging zurück ins Zimmer und spielte als Zugabe den Flohwalzer. Nur für mich. An den Stamm des Kastanienbaums gelehnt stand ich und stellte mir vor, wie die Finger des Mädchens über die Tasten tanzten: dididimdimdim, dididimdimdim, dididimdidimdidimdimdim. Wie schön! Wie aus einem Traum aufwachend ging ich schließlich weiter.

Vor mir glitzerte Wasser im Mondschein. Samtige Dunkelheit hatte sich über die Welt gebreitet und Mutter Erde schien nach dem langen heißen Tag aufzuatmen. Ihr Atem duftete geheimnisvoll nach reifendem Getreide und Wiesenkräutern. Leichter Fischgeruch stieg mir in die Nase und dahinein mischten sich tausend andere Gerüche. Meine nackten Zehen bohrten sich in weißen kühlen Sand und ich war froh über meinen spontanen Entschluss, doch noch an den Badesee gefahren zu sein. Einen Moment hielt ich inne und horchte in die Stille. Von fern klang das Brummen eines Motors herüber. Ein Käuzchen schrie. Dann lief ich einen Schritt vorwärts. Das Wasser war wunderbar warm und sacht ließ ich mich hinein gleiten. Es umspülte meinen Körper und ich begann mit kräftigen Zügen zu schwimmen. Tauchte ein in silbrige Tiefen. In den unteren Schichten war das Wasser kühler, fast kalt und es spülte mehr weg, als nur Hektik und Schweiß. Der Alltag schien mit einem mal Ewigkeiten entfernt zu sein. Dies war eine andere Dimension. Dunkelheit, Geheimnis und Stille umgaben mich, wie eine schützende Decke. Als ich ans Ufer zurück schwamm begannen Grillen zu zirpen. Ihr Lied tönte gleichförmig in immer neuen Strophen, dann mischte sich das Quaken eines Frosches hinein: Konzert für Bass und Sopran in immer neuen Varianten, laut anschwellend, dann wieder pianissimo. Für kurze Zeit quakte ein Frosch Solo bis durchdringend der Chor der Grillen wieder einsetzte. Wie gebannt stand ich in dieser Zauberwelt und ein Gedanke fiel leicht wie eine Sternschnuppe vom Himmel und ließ sich in meinem Herzen nieder: Irgendjemand spielt immer Klavier.