KAFFEEKRÄNZCHEN

Gestern nahm ich mir fest vor eine Puppe zu nähen. Am Besten begann ich sofort damit. Deshalb ließ ich den Kaffee nach der Arbeit ausfallen, die Arbeitssachen flogen über die Sofalehne und bequeme Sachen - Trainingshose und T-Shirt - waren schnell übergezogen. Nun konnte es losgehen. Zuerst stellte ich die Dinge, die auf dem Nähtischchen standen beiseite: einen Strauß Kunstblumen, eine Vase und einige Kerzen. Auch die Tischdecke nahm ich herunter. Dann hob ich die Nähmaschine aus ihrem Koffer, in dem sie untergebracht war, wenn ich sie nicht brauchte und stellte sie auf den Tisch, steckte den Stecker der Leitung in die Steckdose und fädelte danach die Fäden ein. Der Oberfaden bereitete mir keine Schwierigkeit, das ging schnell. Aber bei einer Nähmaschine gibt es auch noch einen Unterfaden und diesen einzufädeln war schon etwas schwieriger. Zunächst holte ich die Spule aus einem Kästchen wickelte mit Hilfe der Maschine Faden auf und verfrachtete diese dann in die dazugehörige Vorrichtung. Nun musste der Zwirn mit Nadel und Oberfaden nach oben geholt werden. Das klappte bei mir nie beim ersten Versuch. Drei Anläufe benötigte ich, dann war die Nähmaschine startbereit. Natürlich konnte ich mit dem Nähen noch nicht gleich beginnen, denn zuerst musste ich auf altem Zeitungspapier den Schnitt für meinen Stoff anfertigen. Mit einem Rotstift zeichnete ich erst einmal die Teile für den Kopf, dann Rumpf, Arme und Beine. Den Rumpf musste ich mehrmals zeichnen, weil er in der Größe nicht gleich zum Kopf passen wollte. Die Puppe sollte ein Geschenk für Miss Marple werden und deshalb richtig liebenswert aussehen, denn auch Miss Marple war eine sehr liebenswerte Person.

Miss Marple ist die netteste alte Dame im ganzen Stadtviertel und deshalb freute mich schon wieder auf meinen Besuch bei Ihr. Einmal in der Woche trafen wir uns zu einem nachmittäglichen Plausch bei Kaffee und Kuchen in Ihrer Wohnung. Miss Marple hieß eigentlich Inge. Miss Marple nannte nur ich die alte Dame, weil sie der Schauspielerin Margareth Rutherford, die in einigen Filmen Agatha Christies Miss Marple spielte, wie aus dem Gesicht geschnitten war. Inge bestand darauf, dass wir uns bei ihr zum Kaffeekränzchen trafen, weil sie, wie sie scherzhaft bemerkte, die bessere Hausfrau von uns beiden war. Und ich finde, damit hatte sie ganz recht. Sie buk die leckersten Kuchen, die ich je gegessen habe. Sie gab mir alle ihre Rezepte und ich hatte Rührkuchen, Zuckerkuchen, Eierschecke und Bienenstich nachgebacken, aber so locker und luftig, wie bei ihr, gerieten meine Backwerke einfach nicht. Obwohl, ich finde, dass Inge überhaupt nicht die typische Hausfrau war. Jedenfalls empfing sie einen nie mit dem für viele Hausfrauen typischen heuchlerischen Hinweis, man solle sich ja nicht umsehen, weil sie doch heute noch gar nicht dazu gekommen war, Ordnung in ihrer Wohnung zu machen, von Staub wischen schon gar nicht zu reden und die dann stolz lächelte, wenn man ihr mit dem überzeugtesten Gesicht der Welt versicherte, wie toll alles bei ihr glänzte. Nein, Miss Marple hatte Selbstvertrauen und wenn sie schon mal über sich reden musste, dann betonte sie, wie dankbar sie war, dass sie sich noch selbst versorgen und ihren Haushalt alleine „schmeißen“ konnte. Bestimmt war sie früher mal ein braves kleines Mädchen mit Schleife im Haar gewesen. Wie ein kleines Mädchen sah sie nämlich immer noch aus. Adrett gekleidet, mit sorgfältig frisiertem weißem Haar huschte das zierliche Persönchen flink und leichtfüßig durch ihre Wohnung.

In ihren Augenwinkeln hatte sie lustige kleine Lachfältchen und der Schalk, der aus ihren Augen blitzte, ließ mich ihr Alter glatt vergessen. Außerdem war Miss Marple über das aktuelle Weltgeschehen immer bestens informiert und ihre achtzig Lenze hatten sie pragmatisch werden lassen, so dass die meisten Geschehnisse sie nicht aus dem Gleichgewicht bringen konnten.

Eines Tages stürzte Inge im Treppenhaus und danach brauchte sie etwas mehr Aufmerksamkeit, weil sie von ihrem Arzt gleich zwei Wochen Ausgehverbot verordnet bekam. Dies passte ihr überhaupt nicht, weil es ihren Bewegungsraum zu sehr einschränkte. Die alte Dame war kein Mensch, wenn sie nicht wenigstens für eine Stunde im nahen Park spazieren gehen und Schwäne und Enten auf dem Teich mit Brotresten füttern konnte. Auch waren da noch die anderen alten Damen und natürlich vermisste sie Adelheit, Gertrut, Alma, Minna, Frieda und wie sie sonst noch heißen mochten. Aber Miss Marple sollte sich schonen, denn vom Kopf bis zu den Füßen war ihr Körper mit blauen Flecken übersät und sie konnte von Glück sagen, dass Arme und Beine ganz geblieben waren.

So kam es, dass ich nach der Arbeit für sie einkaufen ging und auch einige andere Besorgungen für sie erledigte. Natürlich brachte ich es meist nicht übers Herz gleich wieder zu gehen und wir unterhielten uns über dieses und jenes. Als ich gestern wieder einmal bei Miss Marple klingelte sah ich entsetzt, dass der blaue Fleck um ihr Auge sich inzwischen grün und gelb verfärbt und über ihr gesamtes Gesicht verteilt hatte. „Mensch, Inge“ zog ich sie deshalb auf, „in deinem Alter solltest du dich nicht mehr prügeln. Beherrsche dich mal, so etwas schickt sich in deinem Alter nicht.“ Inge grinste mich an und zuckte mit den Schultern. Sie wusste, dass dies meine Art war ihr zu sagen, dass sie auf sich aufpassen sollte und mir war klar, dass ich sie nicht vor allen Unfällen bewahren konnte, so gern ich dies auch tun wollte.

Inge ließ mich hinein und verwöhnte mich dann wieder einmal nach Strich und Faden. Als ich ihr helfen wollte, winkte sie ab, denn es gehörte zu unserem Ritual, dass sie, während der duftende Kaffee in der Küche gurgelnd durch die Kaffemaschine in die Glaskanne lief, Teller aus der Anrichte holte - die guten, kobaltblauen, mit dem Goldrand und die dazu gehörenden Sammeltassen. Teller und Tassen durfte ich ihr abnehmen und auf dem Couchtisch auf den Platzdeckchen verteilen, Miss Marple stellte noch Zuckerdose und - schmunzelnd - die Milchkuh dazu. Was hatten wir uns über dieses kitschige weiß - braun gefleckte Porzellanrindvieh schon amüsiert. Inge hatte es als Mittvierzigerin zu einer Frauentagsfeier in ihrem Betrieb geschenkt bekommen und es machte einfach unheimlich viel Freude zuzusehen, wie sie das Tier eine Runde über den Tisch galoppieren ließ, bevor sie Kondensmilch in den offenen Rücken füllte, die dann durch das offene Maul in den Kaffee floss, wenn man die Kuh an dem, zu einem Griff geformten Schwanz fasste und ein wenig anhob.

Natürlich plauderten wir wieder über Gott und die Welt, über gute Nachrichten und weniger gute auch. Inge hatte so eine nette Art Geschichten zu erzählen, dass man immer noch mehr davon hören wollte. Ihre Geschichten hörten sich so anders an, als das, was ich einmal im Geschichtsunterricht gelernt hatte. Sie und ihre Freunde hatten als Bauernkinder gleichberechtigt mit den Kindern des Gutsherrn Haschen, Verstecken, Eins, zwei, drei ins faule Ei und Räuber und Gendarm gespielt. Mit Haselgerten ließen die Kinder Kreisel sich drehen, sie hatten Wettrennen veranstaltet und waren im Winter über die glatte Eisfläche des Dorfteiches geschliddert. Sie war wieder das kleine Mädchen von damals, als sie berichtete, wie sie zusammen gelacht und sich auch mal gestritten oder geprügelt hatten und ich konnte mir bildlich vorstellen, wie die Meute das Dorf unsicher gemacht hatte. Anschließend hatte mir Inge die Geschichte von der Puppe erzählt. „Stell Dir vor“ begann sie „ich habe mir immer eine Puppe gewünscht. Von meiner Mutter habe ich aber nie eine bekommen. Einmal habe ich mir aber doch Hoffnungen gemacht. Es war die Zeit nach dem Krieg und wir wurden in unserem Dorf noch vom Gutsherrn beschenkt. Die Eltern kauften Geschenke oder fertigten welche an und dann wurden diese auf dem Gut abgegeben. Wir Kinder gingen am ersten Feiertag zur Bescherung hin. Da lagen dann die herrlichen Dinge unter einem großen, bunt geschmückten Baum und es war auch eine Puppe dabei. So eine Schöne, mit Porzellankopf und einem duftigen geblümten Kleidchen an. Der Reihe nach wurden alle Geschenke verteilt und immer noch lag die Puppe da. Je mehr Kinder beschenkt wurden umso mehr Hoffnung machte ich mir. Aber dann hat sie doch ein anderes Mädchen bekommen. Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich die Gerda beneidet habe.“ Sie guckte auf einmal so verzweifelt, als wollte sie dem Mädchen aus ihrer Erinnerung die Puppe gleich aus den Armen reißen. „Und, hast du sehr geweint?“ fragte ich sie. „Das weiß ich nicht mehr. Aber kannst du dir vorstellen, was ich bekommen habe? Eine lange Unterhose! Oh mann, war ich empört! So was zog ich mit vierzehn doch nicht mehr an und meine erste Handlung war es deshalb, die Beine von diesem hässlichen baumwollenen Ding abzuschneiden. Na, ich habe von meiner Mutter die schlimmsten Prügel meines Lebens bezogen, denn die war froh, dass sie in den schlechten Zeiten etwas Warmes anzuziehen für mich ergattern konnte.“ beendete Inge seufzend ihren Bericht. Nachdenklich war ich nach dieser Erzählung, denn Inge schien mir heute noch genauso traurig und enttäuscht über dieses Ereignis zu sein, wie sie es wohl damals gewesen war.

Mein Entschluss war daher schnell gefasst: Inge soll ihre Puppe bekommen, dachte ich. Darum entwarf ich einen Schnitt auf altem Zeitungspapier, schnitt Teile aus, stecke sie mit Nadeln auf Leinen fest, welches ich zusammen mit Bastelwatte im Handarbeitslädchen gekauft hatte. Die Stoffbahn lag doppelt übereinander, weil ich alle Stücke zweimal benötigte. Nun mussten die Stoffteile ausgeschnitten werden, wobei zu beachten war, dass etwa ein Zentimeter für die Naht zugegeben werden musste und als das geschehen war, konnte es losgehen mit der Näherei. Ratternd bewegte sich die Nadel über das Leinen. Zuerst umnähte ich mit einer Zickzacknaht die Stoffteile, damit das Gewebe nicht ausfranste. Als das erledigt war, steckte ich diese so zusammen, dass es Kopf, Körper, Beine und Arme ergab. Nun konnte man schon erkennen, wie das Ergebnis aussehen würde. Nachdem ich vorsichtig alle Gliedmaßen mit einer Naht versehen hatte, wurden sie gewendet, sodass die Nähte jetzt innen waren. Nun konnte das Ausstopfen beginnen. Hierfür verwendete ich eine Art Watte aus Kunstfaser. Richtig fest stopfte ich diese in die fertigen Stoffhüllen und hielt, als ich Gliedmaßen und Kopf mit der Hand am Rupf angenäht hatte, ein dralles Baby im Arm. Natürlich brauchte dieses noch ein Gesicht. Mit farbigem Stickgarn nähe ich vorsichtig Mund und Augen auf den Stoff und aus kupferfarbener Wolle bekam meine Puppe Haare angefertigt. Oh, wie niedlich. Stolz betrachte ich mein Werk und lächelte still in mich hinein, als ich mir Inges Freude vorstellte, wenn ich ihr die Puppe schenken würde.

Am nächsten Tag kaufte ich im An- und Verkauf ein hübsches Kleidchen - es war tatsächlich eins mit aufgedruckten Sommerblumen vorrätig - und ein Paar gehäkelte Schuhchen, dann lief ich den kurzen Weg zu Miss Marples Wohnung. Während ich die Treppen in die dritte Etage hinauflief, stieg meine Vorfreude ins unermessliche.

Auf das, was dann geschah, war ich allerdings kein bisschen vorbereitet. Noch nie hatte ich einen Menschen so fassungslos gesehen. Die alte Dame stand mitten im Wohnzimmer, wiegte die Puppe, wie ein Baby im Arm, zupfte an dem Kleidchen und streichelte ihr immer wieder über Gesicht und Haare. Inge schluchzte, dass es sie nur so durchschüttelte. Lange konnte sie sich nicht wieder beruhigen. Ich nahm sie in die Arme und drückte sie. „Mensch Kleene, so hässlich sieht sie doch nun wirklich nicht aus“ frotzelte ich. Etwas anderes, als dieser dämliche Scherz fiel mir nicht ein. Mit schiefem Lächeln wischte sie sich die letzen Tränen aus dem Gesicht und umarmte mich stumm.

Inge blieb still an diesem Nachmittag auf dem Sofa sitzen und überließ mir dieses Mal die Vorbereitungen für unser Kaffeekränzchen. Auch als wir später am Couchtisch bei Kaffee und Kuchen saßen, wollte sich ihre gewohnte Heiterkeit nicht gleich wieder einstellen. Die Puppe bekam den Namen Emma und saß die ganze Zeit auf Inges Schoß und den restlichen Nachmittag gab sie sie nicht ein einziges Mal aus der Hand. Später vertraute Inge mir an, dass sie Emma an diesem Abend mit in ihr Bett genommen und sich froh an sie gekuschelt hatte. Wie ein Kind war Inge glücklich mit ihrer Emma im Arm eingeschlafen.