Gernrode / Harz Oktober 2010

ZEITREISE

Mein Freund Jörg hatte sich für ein Wochenende ins Elbsandsteingebirge verabschiedet und, weil er auf dem hinterhermsdorfer Zeltplatz campen wollte und es mir für solche Aktionen um diese Jahreszeit zu kalt ist, hatte ich mich spontan entschieden eine Freundin in Elbingerode zu besuchen. Ich hatte vor, an einem Donnerstag mit dem Zug nach Gernrode zu fahren und am nächsten Tag von hier aus über Thale nach Treseburg zu wandern. Von Treseburg aus wollte ich dann am Samstag auf dem Harzer Hexenstieg marschieren, um nach Elbingerode zu gelangen.

Vom Bahnhof aus marschierte ich nach Gernrode hinein. Seit ich zum letzten Mal hier war, hatte sich sehr viel verändert. Schmuck war das Städtchen geworden, so dass ich es fast nicht wieder erkannte. Doch bald fand ich vertraute Orte, ungefähr so, wie wenn man sich Fotografien älterer Menschen ansieht. Dann fällt einem bei dem Vergleich mit Aufnahmen aus ihrer Jugendzeit auf, dass ihre wesentlichen Charakterlinien erhalten geblieben sind oder sich verstärkt haben. Sei es eine bestimmte Art zu lächeln oder ein gewisser Ausdruck um Mund und Nase, die charakteristischen Wesenszüge haben allen Stürmen des Lebens standgehalten. Sieht man genau hin, so schaut dem Greis das Kind von ehemals noch immer aus verschmitzt lachenden Augen.

Da war die Bäckerei in der Oma Tilde mir oft Baisers gekauft hatte, daneben das Hotel „Zum Bären“, beide mit neuen, modernen Fassaden und einige Meter weiter eine Drogerie, an der die Zeit scheinbar spurlos vorübergegangen war. Auch die gernröder Stiftskirche ist ein bekannter Anblick und das Gebäude gegenüber, in dem sich jetzt ein Café befindet, sah in meinen Kinderjahren nicht so prächtig aus.

Wenige Schritte später dann, ohne, dass ich erst einen Blick auf das Straßenschild werfen musste, wusste ich, dass ich nach Hause gekommen war. Wie im Traum lief ich den Schwedderberg entlang. Er wirkte etwas fremd, denn die alten Linden am Straßenrand waren gefällt und durch junge Bäume ersetzt worden. Aber sonst war er ganz der alte Bekannte, unser Ziel, wenn meine Eltern mich für einige Tage zu Schielke Oma brachten oder Beginn für viele Harztouren nach Thale, Friedrichsbrunn oder Alexisbad, die diese mit mir unternahm. Wie froh war ich immer, wenn wir ihn, nach langer Fahrt mit dem Trabant endlich erreicht hatten oder ich an Omas Hand von hier aus zu neuen Abenteuern aufbrach. Auch der Gehsteig war neu gepflastert, schön eben und nicht mehr so bucklig, wie in meiner Kinderzeit, aber man hatte das alte zweifarbige Muster wieder verwendet. Die Grundfarbe ist weiß und dahinein ist mit schwarzen Pflastersteinen ein fortlaufendes Muster aus langen schwarzen Rhomben eingelegt. Als Kind hatte es meine Phantasie unglaublich beflügelt, auf diesen Linien entlang zu laufen oder zu hüpfen und mir die Fassaden der am Straßenrand stehenden Häuser zu betrachten.

Ich wanderte zurück durch die Zeit, an prächtigen Villen mit bunten Bleiglasfenstern vorbei und als ich endlich vor dem Haus stand, in dem Oma Tilde gewohnt hatte, war ich wieder ein kleines Mädchen; es ist Abend und ich fühle mich allein gelassen, denn meine Eltern sind gerade zurück nach Hause gefahren. Die Sonne lugt durch die Scheiben des Stubenfensters hinter mir und malt orangene Muster auf den ovalen Holztisch, auf dem eine große selbst gefertigte Häkeldecke liegt. Schielke Oma gießt einen Schluck Sirup, den sie in ein Glas gegossen hat, mit heißem Wasser auf - das ist „der Tee“ Die rote süße Flüssigkeit duftet stark nach Erdbeeren und schmeckt nach Willkommen, Geborgenheit und Liebe.

Zur Schlafenszeit, nach dem „Sandmännchen“ werde ich im Schlafzimmer in Omas großes Bett gesteckt und es beruhigt mich, dass Oma Tildes Schlafraum von ihrer Stube nur mit einem Vorhang abgetrennt ist, durch den ich den Vorspann der Tagesschau und die sonore Stimme des Sprechers hören kann. Wenn ich bei ihr zu Besuch bin, schläft Oma im Wohnzimmer auf der Couch. Wenn ich nicht gleich einschlafen kann, stehe ich auf und stelle mich barfuß auf das wunderbar weiche, langhaarige Perserkatzenfell, welches vor einem mit bunten Streublumen gemusterten Pappnachtschränkchen liegt. Neugierig öffne ich dann sämtliche Parfumfläschchen, die Oma Tilde auf ihrem Nachtschrank stehen hat und es ist eine unglaublich sinnliche Erfahrung, die bloßen Zehen in dem wuscheligen Katzenpelz zu versenken, die phantasievollen Formen der Parfumfläschchen zu bewundern und die unterschiedlichen Düfte wahrzunehmen, wissend, dass Oma nicht schimpfen wird, wenn sie mich dabei erwischt. Was für eine Erinnerung!

Nur allmählich fand ich zurück in die Gegenwart. Die Sonne begann unterzugehen, die ohnehin frische Herbstluft kühlte noch mehr ab und ich begann zu frieren. Es wurde Zeit weiter zu wandern, denn ich musste noch die Pension in Bad Suderode ausfindig machen, in der ich übernachten wollte.

Ohne lange danach suchen zu müssen fand ich auch dieses Mal den schmalen Trampelpfad auf der gegenüber liegenden Straßenseite wieder, der auf einen Waldweg führt, der parallel zum Schwedderberg von Gernrode direkt nach Bad Suderode verläuft. Schon als Kind fand ich es toll, dass Oma Tilde den Wald direkt vor der Haustüre hatte und so wie auf diesem Waldweg Schielke Oma und ich oft in die Nachbargemeinde gelaufen waren so wandere ich auch heute darauf und noch immer endet der Weg im Kurpark der Harzgemeinde Bad Suderode. Der Gegensatz zwischen diesem gepflegten Ort mit seinen Rosenrabatten und der gleich dahinter beginnenden „Wildnis“ begeistert mich heute noch genauso, wie er mich schon als Kind fasziniert hatte, damals vor allem, weil die Lehnen der weißen Bänke, die an geraden Wegrändern aufgestellt waren, aussahen, als beständen sie aus Knüppeln, die ihr Schöpfer aus dem Wald aufgelesen und weiß angestrichen hatte und heute, weil ich staune, wie klein meine Welt von damals geworden ist. Die Knüppelbänke existieren natürlich nicht mehr. Sie wurden gegen neue ausgetauscht, die einfach, brav und bieder wirkten und einen frischen Anstrich dringend nötig haben.

So, wie mein Weg heute in Bad Suderode endet, so enden die Geschichten der blauen Stunde an dieser Stelle. Aber so, wie ich morgen aufbreche, um auf neuen Pfaden zu meiner Freundin zu wandern, so wird es auch in Zukunft neue Geschichten geben, die das Leben mit seinem bunten Stift schreibt, abwechslungsreich, mal zum Lachen und mal zum Weinen und manchmal dazwischen, aber niemals langweilig, wenn man mit offenen Augen durch die Welt geht.