Tagebuch einer Freundschaft

 

13. Oktober

 

„Omi, wasmachnd die Leute da?“ Ein kleines Mädchen, dessen straff geflochtene braune Zöpfe keck von ihrem Kopf abstanden und das diese Frage mit heller Stimme im schönsten Sächsisch stellte, tippelte an der Hand einer alten Dame über den Markt meiner Heimatstadt. Der ausgestreckte Arm der Kleinen deutete auf eine Gruppe Menschen, die es sich auf den Bänken, die um den Brunnen herum standen, bequem gemacht hatten. Was die Großmutter ihrer Enkelin antwortete, konnte ich zwar nicht verstehen, jedoch sagten ihr missbilligendes Kopfschütteln und die Art, wie sie das Mädchen grob in Richtung Rathaus zerrte, auch ohne Worte genug.

Mein Blick wanderte hinüber zu den Leuten am Brunnen und ich dachte, dass ich wahrscheinlich auch in Erklärungsnot geraten würde, wäre ich eine Oma, die ihrer Enkelin diese Szene erklären müsste. Die Männer interessierte jedoch nicht, was um sie herum geschah, sie diskutierten lautstark, gestikulierten wild und lachten schallend, während sie eine Flasche Klaren herumwandern ließen. Einer trank einen Schluck und gab die Pulle danach an seinen Nachbarn weiter, der sie abwischte und seinerseits einen großen Schluck nahm. Dazu hatte jeder noch eine Flasche Bier zu seinen Füßen stehen, es ging so hoch her, wie bei einer Stammtischrunde in der Sportlerkneipe, dem Volkshaus am Fußballstadion, in der ich als Köchin und gelegentlich auch als Bedienung arbeitete und aus der ich die meistern der fidelen Auf-der-Bank-Hocker kannte. Ich war weit davon entfernt, ihnen verächtliche Blicke zuzuwerfen, weil ich die Männer nicht nur kannte, sondern auch um ihre besonderen Geschichten wusste, die meistens interessant, amüsant oder beides waren.

Da war beispielsweise Knox, ein kleiner Alter mit roter Knollennase im Gesicht, dem man nachsagte, dass er vor der Wende auf originell - dreiste Weise aus der Teppichfabrik Teppiche oder Läufer gestohlen hatte, indem er sie ganz offen in einem abgedeckten Handwagen am Pförtner vorbei zum Werktor hinaus transportierte. Manchmal, wenn der Pförtner fragte, was er wohl auf seiner Karre mitnehme, antwortete Knox sinngemäß: „Natürlich Teppiche, was denkst du denn?“ Es wurde erzählt, dass diese Masche hervorragend funktionierte, bis Knox irgendwann doch erwischt und umgehend gefeuert wurde.

Der lange Rolf, den alle nur „Dem lieben Herrgott sein Bleistift“ nannten, stand schwankend auf und man konnte sehen, dass seine Jeans an den Innenseiten nass waren. Der Mann war Weber in der Teppichfabrik gewesen und „abgestürzt“, als seine Mutter gestorben war und er niemanden mehr hatte, der sich um ihn kümmerte. Er brüllte Knox an, wegen etwas, das dieser zu ihm gesagt hatte, setzte sich dann aber wieder, als dieser ihn am Ärmel packte und auf die Bank zurück zog.

Der Nächste in der Runde war Gerald, unser Kellner in der Sportlerkneipe, den ich immer mal wieder vertreten musste, wenn die Gäste ihn erfolgreich „abgefüllt“ hatten. Für den Fall, dass in der Gaststube Hochbetrieb herrschte, hatten Gerald und ich die Tische nummeriert, damit ich das zubereitete Essen zu den Gästen bringen konnte. Einmal hatte Gerald mitten im größten Trubel bei mir ein Bauernfrühstück bestellt. Allerdings stand auf dem Kassenbon, den er mir auf den Tisch knallte nur „LPG“ (Abkürzung für Landwirtschaftliche ProduktionsGenossenschaft) und Muldenschaf, statt der Tischnummer. Auf meine Frage, wer das denn sei, rief er im Hinauseilen, dass ich das schon herausfinden würde. Und schon war er wieder verschwunden, um Zuschauer und Mannschaften, die nach dem Samstagsspiel in die Gaststube strömten mit Unmengen Bier und Schnaps zu versorgen. Wenig später stand ich mit dem Essen an der Theke und schaute verärgert und ratlos in die brechend volle, verräucherte Gaststube, doch obwohl ich es nicht für möglich gehalten hatte, entdeckte ich an einem der Tische tatsächlich den Mann, der das Bauernfrühstück bestellt hatte. Ich musste mir ein freches Grinsen verkneifen, als ich die dampfende Kombination aus Bratkartoffeln, angedünsteten Zwiebel- und Schinkenwürfeln in Eierhülle vor dem Mann auf den Tisch stellte und ihm einen guten Appetit wünschte. Der sah einem Schaf tatsächlich so ähnlich, wie ich meinem alten Herrn. Jetzt saß der kleine untersetzte Mann mit der Haube aus braunen Locken neben Gerald und trank einen Schluck Bier, bevor er weiter redete.

Manfred schien es besser zu gehen, jedenfalls heute machte er einen mopsfidelen Eindruck. Über Dreißig Jahre war er jeden Tag seiner Arbeit als Elektriker nachgegangen. Kurz nach der Wende meldete seine Firma Insolvenz an und er stand, wie viele andere auch, auf der Straße. Niemand wollte ihn einstellen und spätestens nach der gefühlten tausendfünfhundertsten Bewerbung hatte er die Hoffnung aufgegeben, dass er irgendwann noch einmal Arbeit bekommen würde. Er geriet ins Straucheln, begann zu trinken, vergaß Anträge zu stellen und verlor seine Wohnung, weil er keine Miete mehr bezahlen konnte, so dass die Laube in einer Gartenalage für lange Zeit seine einzige Bleibe war. Nur mit Hilfe einer Betreuerin vom Amt, hatte er sich aus diesem Teufelskreis befreien können.

Neben Manfred saß behäbig der ehemalige Direktor der Deutschen Bank, der im Volkshaus nach einigen Bierchen und paar Schnäpsen dazu auf der Eckbank zu schnarchen pflegte und ein breitschultriger Riese, den ich nur als „Polier“ kannte, weil er Tag für Tag in einem vollkommen faltenfreien und darum ladenneu wirkenden „Blaumann“ aufkreuzte komplettierte scheinbar die Runde.

Doch nun schlurfte überraschend eine kleine, dicke Frau, mit fettigen grauen Haaren, glänzendem Gesicht und gläsernem Blick durch die Runde der Männer. Ihr Rock war fleckig und zerknautscht und ihr Blick starr auf den Boden gerichtet. „Na Stony-Else, hast wohl genug?“ rief einer der Männer ihr zu. „Geh heim!“ ein anderer, aber die Alte reagierte überhaupt nicht. Starr vor sich hinstierend schob sie sich durch das Marktreiben und verschwand in der gegenüberliegenden Gasse. Obgleich mich niemand beachte, senke ich den Blick. Der Anblick dieser Frau brachte mich noch immer in Verlegenheit, denn einmal hatte ich sie sehr schlecht behandelt. Wie aus einer anderen Zeit auftauchend, wurde ich meine Umgebung wieder gewahr und ging nachdenklich nach Hause. Es fiel mir schwer, mein Kopfkino wieder auszuschalten. So gefangengenommen war ich von meinen Gedanken, dass ich zu tun vergaß, weshalb ich auf den Markt gekommen war und ohne meine Einkäufe zu tätigen nach Hause zurück kehrte.

* * *

Sie war eine alte Frau. Sie mochte die Menschen nicht und die Menschen mochten sie nicht. Entweder ignorierten sie sie; was ihr am angenehmsten war; es gab jedoch auch noch die anderen, für die sie eine Säuferin und Pennerin war. O ja, eine alte, asoziale, stinkende, schmierige alte Vettel hatte sie einmal ein hochmütiges junges Ding geschimpft, das sie aus ihrer Stammkneipe hinausgeworfen hatte und das nur, weil sie so großen Durst gehabt hatte. Aber dieses vorlaute, junge Gör, hatte nur das ausgesprochen, was sowieso alle dachten. Wenn sie durch die Straßen zum nahen Supermarkt lief, um sich mit einigen Lebensmitteln, Zigaretten und ihrem lebensnotwendigen Kräuterschnaps einzudecken, spürte sie die verächtlichen Blicke, wie Nadelstiche auf ihrem Körper und konnte ihre Gedanken förmlich riechen. Ja, auch Gedanken konnten stinken, richtig muffig, es war unerträglich, aber es kränkte sie nicht mehr. Was wussten die schon? Inzwischen hatte sie alles vergessen. Fast, jedenfalls. War glücklich, wenn sie jeden Tag etwas zu trinken hatte und man sie in Ruhe ließ.

Als sie um die Ecke ihres Hause geschlurft kam, ging es ihr gut. Sie war auf dem Markt bei ihren kumpels gewesen. Die nannten sie „Stoni-Else“, nach dem Schnaps, den sie am liebsten trank. Den Kräuterlikör gab es seit der Wende nicht mehr, aber der Name war geblieben. Ihren richtigen Namen wusste außer ihr niemand und auch sie hatte ihn fast vergessen, weil außer ihren Freunden kaum jemand mit ihr redete. Was sie trank, spielte inzwischen auch keine Rolle mehr, Hauptsache es war billig und verschaffte ihr die nötige Befriedigung und Vergessen. Nichts anderes war mehr wichtig in ihrem Leben. Sie hatte mit ihren Kumpels auf den Bänken am Brunnen gesessen und die Flaschen kreisen lassen. Kurz bevor sie den Eingang zu ihrem Haus erreichte, stolperte sie über etwas Weiches. Fast wäre sie gefallen. Ein protestierendes „Miau“ schreckte sie aus ihrem Dusel. Vor sich entdeckte sie ein dürres, dreifarbig geflecktes Fellbündel. „Scheißvieh!“ fluchte sie. Dann stapfte die alte Frau die Treppe hinauf und schlug die Türe hinter sich zu. Sie mochte auch Katzen nicht.

 

14. Oktober

 

Es war immer das Gleiche. Ihr Geld war fast alle und würde nur noch für ein paar Bier reichen. Sie schlich die Treppen hinunter, öffnete die Tür, es goss in Strömen. Etwas strich um ihre Füße. Sie sah hinunter und blickte in triefende, rot geränderte Augen. Die Katze war klein und zitterte. Ihr schwarz. - weiß - braun geflecktes Fell war struppig und an manchen Stellen konnte sie die rosa Haut hindurch schimmern sehen. Die alte Frau wolle zutreten, überlegte es sich dann jedoch anders und lief weiter. Die Katze folgte ihr. „Blödes Vieh,  mach, dass du weg kommst. Such dir jemand anderen zum Betteln!“ schimpfte sie. Sie lief einige Schritte, jetzt ein wenig schneller als sonst, aber das Tier folge ihr immer noch. Kurz entschlossen wandte sich die alte Frau um, lief wild mit den Armen fuchtelnd auf die Katze zu. „Fort mit dir!“ rief sie. Und nach einigen Schritten noch einmal „Fort!“. Sie war außer Atem. Keuchend stand sie auf dem Gehsteig. Die Katze war verschwunden. War auch nicht mehr zu sehen, als sie mit fünf Flaschen Bier zurück kam. Es war Mitte des Monats und sie hatte noch dreißig Cents im Portmonee.

 

15. Oktober

 

Die alte Frau öffnete die schwere Haustür und kam die zwei Stufen bis zum Fußweg herabgestiegen. Die Katze hocke vor ihr. Sie sahen sich an. Das Tier, räudig, von einem Vorderbein auf das andere tänzelnd und die Frau, die niemand mochte. „Was machst du denn schon wieder hier?“, machte sie ihrem Ärger Luft, aber es klang schon weniger aggressiv. Die Katze miaute. „Ach mach doch was du willst.“ brummelte die Alte vor sich hin. Sie war auf dem Weg zum Markt. Sie hoffte einige ihrer Freunde zu treffen, Vielleicht hatte der eine oder andere einen Schluck übrig für sie. Sie lief los. Immer wieder schaute sie zurück. Die Katze folgte ihr in einigem Abstand. Manchmal schien sie verschwunden zu sein, aber bei ihrem nächsten Blick, den die alte Frau hinter sich warf, war die Gefleckte plötzlich wieder da. Es war, als würde sie Verstecken spielen oder einen verrückten Tanz aufführen. Dann gab die alte Frau es auf hinter sich zu sehen, irgendwann würde das Tier schon verschwinden, hoffte sie.

Ihre Freunde grölten, als sie zu ihnen trat. „Wen bringst du uns denn hier mit?“ „Miez, Miez, Miez“ Sie lachten und freuten sich wie Kinder und einer versuchte die Katze am Genick zu greifen. Doch die fauchte und schlug mit den Krallen zu. „Ach lass das doch.“ brummte Stoni-Else unwirsch. Sie schubste die Katze zwischen die Stiefmütterchen, auf der Rabatte, neben dem Brunnen, doch die schwarz weiß Gefleckte kam immer wieder und wuselte zwischen den Beinen herum, wie um sich zu vergewissern, ob die alte Frau noch da war. Diese sah sich im Kreis um. Ihre Freunde waren wie ausgewechselt. Dann ließ sie sich eine Flasche Bier spendieren. Sie waren alle ziemlich abgebrannt. Als sie gehen wollte deutete einer auf das gescheckte Tier und meinte nur „Was willst du nun machen?“ Sie schüttelte den Kopf: „Ich weiß es nicht.“ Dann überlegte sie und frage in die Runde „Hat noch jemand zehn Cent für mich? Dann reicht es noch für eine Kondensmilch.“

 

Sie war hinauf in ihre Wohnung gegangen und hatte ein wenig Milch mit Wasser gemischt. Jetzt stellte sie vorsichtig eine Untertasse auf das Pflaster und goss die verdünnte Milch darauf. Die Katze schnupperte kurz, dann tauchte sie mit ihrem Maul in die begehrte Flüssigkeit und in Sekundenschnelle war die Milch aufgeschleckt. Jetzt begann das Tier zu schnurren. Die alte Frau seufzte. Da hatte sie sich ja etwas Schönes eingebrockt.

In der Nacht erwachte sie schweißgebadet. Ihr Kopf dröhnte, sie zitterte und ihr war speiübel. Sie schaffte es gerade noch bis zum Klo. Ihr Magen krampfte. Es tat weh, als würde ihr einer mit dem Messer hineinschneiden. Es war wie immer. Als nur noch Bitternis hoch kam, schwor sie sich, dass sie nie wieder einen Tropfen Alkohol anrühren würde. Auch wie immer. Dann machte sie Licht und begann in den Schränken nachzusehen, ob sie etwa in irgendeiner Ecke eine Flasche vergessen hatte. Konnte ja sein. Aber natürlich war ihr das noch nie passiert und sie fand auch heute nichts. Alles war wie immer am Monatsende. Sie hasste ihr Leben. Schwach und müde kroch sie wieder ins Bett. Sie war müde. Sie schwitze. Im nächsten Moment fror sie so sehr, dass sie unkontrolliert am ganzen Körper zitterte und ihr Kopf schmerzte, als hätte ihr jemand mit einer Holzkeule darauf geschlagen. Sie konnte nicht schlafen, starrte in die Dunkelheit. Hörte in einer der Wohnungen im Haus Wasser rauschen. Draußen zerschnitt das Aufheulen eines Motors die Stille. In der Ferne rollte ein Zug vorüber. Sie hatte Durst und da fiel ihr plötzlich die Katze ein. Die war auch durstig gewesen. Ob sie noch da war? Vorsichtig zog sie sich an. Als sie im Flur am Spiegel vorbei kam, sah sie zum ersten Mal seit langer Zeit bewusst ihr Gesicht im Spiegel. Sie sah furchtbar aus. Ihr Gesicht war gerötet und die Haare waren strähnig. Sie streckte ihrem Spiegelbild die Zunge heraus. Die Treppen wollten kein Ende nehmen und sie musste sich am Geländer festhalten, damit sie nicht hinunter fiel, denn um sie herum drehte sich alles. Sie öffnete die Tür und die Katze schlüpfte hinein, als hätte sie gewusst, dass die alte Frau kommen und sie herein lassen würde. Das Tier lief neben ihr her, die Treppen hinauf, als wäre es immer schon hier zu Hause gewesen. Als sie oben waren gab sie Milch auf den Teller und goss Wasser dazu. Dann sah sie zu, wie die rosa Zunge die Milch leckte. Fein säuberlich bis der Teller blitzblank war. Wieder begann das dürre Wesen zu schnurren. Die alte Frau bückte sich, strich behutsam über das struppige Fell und merkte, wie sich das Tier in ihre Hand schmiegte.“Was fange ich nur mit dir an?“ fragte sie in die Stille und erhielt nur ein klägliches „Miau“ als Antwort. Da setzte sich die alte Frau auf den Boden und streichelte das schwarz weiße Fell. Lange saßen sie beide am Boden. Die Zeit tröpfelte dahin. Früher, ja früher irgendwann hatte es Katzen in ihrem Leben gegeben. Als sie noch Eltern hatte, die mit dem Kind, dass sie war in Urlaub gefahren waren. Doch dieses Leben war hinter ihr geblieben, war verblasst und vergessen. Lange Zeit schon. Sie erlaubte sich nie daran zu denken. Sie wurde schläfrig und ihr Körper fiel zur Seite.

Die Oktobernacht war klar, kalt und voller Sterne, es roch nach frisch gefallenem Laub und sie beobachtete, wie die graue Katze neben der roten Gummipütt plötzlich blitzschnell mit der Pfote ins Wasser tauchte, um einen der Köderfische herauszuangeln. Im Schatten warteten auch noch andere Katzen, aber die graue war die Mutigste von allen. Sie kicherte, als das Tier ihre Pfote unverrichteter Dinge zurückzog und es gleich darauf noch einmal versuchte. Sie hörte das Lachen von Männern und Frauen, die um ein Lagerfeuer herum saßen und unter denen auch ihre Eltern waren. Sie konnte nicht schlafen und war deshalb aus dem Bett geklettert und in die dunkle Herbstnacht gelaufen ohne sich etwas überzuziehen. Schnurrend strich eine der Mäusejäger um ihre Füße, mit denen sie barfuß im feuchten Gras stand und als sie sich hinunter beugte und die Arme ausstreckte sprang die Katze mit einem Satz hinein, doch im Sprung verwandelte sich das Tier in die hämisch grinsende Visage eines Mannes mit bösartig glänzenden Augen … .

Als sie von ihrem eigenen Schrei erwachte, schmerzte ihr Körper. Jeder Muskel war angespannt. Ihre Zunge fühlte sich pelzig an, als wäre Fell darauf gewachsen. Ihr Kopf schien immer noch gespalten zu sein, aber die Gescheckte lag zusammengerollt in ihrer Armbeuge. Sie beobachtete, wie sich der Bauch langsam anhob und wieder senkte. Wie die Pfoten zuckten, als würde das Tier im Traum jagen. Seine entzündeten Augen waren geschlossen. Dort wo das Fell ihren Körper berührte, war es wunderbar warm.

 

21. Oktober

 

„Meine Güte, haben sie schon mitbekommen, dass die Trulla da oben neuerdings eine Katze hat?“ Frau Feist, die Frau Redlich im Treppenhaus abgefangen hatte, blickte vielsagend nach oben. Frau Redlich schüttelte den Kopf. „Ach ja?“ fragte sie nur, um Interesse anzudeuten. „Ja, sieht genau so aus, wie die Alte - ein kleines mickriges, räudiges Biest, genauso heruntergekommen, wie die. Gibt ihr Milch und hat sie neuerdings auch schon in der Wohnung. Wenn die Katze keine Flöhe hat, fresse ich nen Besen.“

Frau Feist wusste immer alles über die anderen Hausbewohner und Frau Redlich hatte sie im Verdacht, dass sie Dinge erfand, wenn es nichts wirklich Neues zu berichten gab. Aber das mit der Katze schien zu stimmen, denn am Nachmittag klingelte die „Suffke“, wie sie die Alte bei sich nannte und frage, ob sie ihr wohl etwas Backpulver borgen könnte, sie wolle etwas gegen die Flöhe ihrer Katze tun. Backpulver! Frau Redlich schüttelte ihren Kopf, sollte so etwas tatsächlich helfen? Na ja, dachte sie, was ging das Ganze sie überhaupt an? Sie ging in ihre Küche, holte ein Tütchen des Verlangten aus einem Gefäß, drückte es der Alten in die Hand und schloss gleich darauf die Wohnungstüre wieder. Aus der Stube drang fragend die Stimme ihres Mannes, wer denn geklingelt hatte? Frau Redlich erklärte es ihm und kräuselte die Lippen verächtlich. „Mein Gott, stinkt die Alte bestialisch“. Herr Redlich schimpfte, dass sie der Alten nicht die Türe vor der Nase zugeschlagen hatte. „Wirst sehen, dass die jetzt wegen jeder Kleinigkeit bei uns klingelt.“ prophezeite er.

 

30. Oktober

 

Die Wohnung hatte mir gleich auf den ersten Blick gefallen. Sie lang in der ersten Etage, was im Winter von Vorteil war, wenn unter mir jemand heizen würde. Vor allem aber war sie hell, gerade jetzt schien die Sonne in mein zukünftiges Wohnzimmer und es war auch ohne Heizung so warm in dem Raum, dass ich in einem kurzärmeligen T-Shirt tapezieren konnte. Ich trällerte ein Liedchen vor mich hin, denn tapezieren ist eine Arbeit, die ich richtig gern tue, weil man den Erfolg sofort sieht. Gerade, als ich dabei war, die letzte Wand meiner Stube mit Tapete zu bekleben, klingelte es. Ich überlegte nur kurz, ob ich zu Hause sein wollte, weil mir Besuch gerade äußerst ungelegen kam, aber als die Klingel nochmals und dann Sturm schrillte, stieg ich murrend von der Leiter und öffnete die Tür. Vor mir stand ein rosa Marzipanschweinchen. Sie wissen schon, eine dieser rosigen Kreationen mit vierblättrigem Kleeblatt und Marienkäferchen auf dem Bauch. Nein, wirklich., es war fett und rosig und sah mich aus schlitzigen verschlagenen Augen an. Die alte Dame, die vor mir stand und sich nur Sekunden später in meinem Flur hinein manövriert hatte, indem sie mich einfach beiseite schob, redete ohne Punkt und Komma. Stellte sich als meine Nachbarin Frau Feist vor und ich konnte ein Schmunzeln nur schwer unterdrücken. Während das Marzipanschweinchen ohne Unterbrechung redete, sah sie sich neugierig in meiner Wohnung um und als ich sie drei Tassen Kaffee später hinauskomplimentiert hatte, wusste ich über jeden Bewohner des Hauses so genau Bescheid, als würde ich die Leute Ewigkeiten kennen und fühlte mich, als hätte gerade jemand einen Eimer Gülle über mir gelehrt. Direkt unter mir wohnte Frau Ehrlich, angeblich eine ganz üble Tratsche deren Mann total unter ihrem Pantoffel stand, in einer der Dachgeschosswohnungen eine Säuferin und Frau Redlich würde sich höchstwahrscheinlich bald scheiden lassen. So war es die ganze Zeit weiter gegangen, monoton hatte das Schandmaul der Alten eine Auskunft an die nächste gereiht und es hatte länger als eine Stunde gedauert, bis ich mich endlich in die Lange versetzt sah, der Frau klar zu machen, dass ich auf weitere Informationen keinen Wert legte und sie beleidigt gegangen war.

03. November

 

Mit der Schulter drückte ich die Haustür auf. Im Treppenhaus musste ich erst einmal meine vollen Einkaufstaschen abstellen, denn der Schlüssel steckte noch im Schloss und die Türe war gerade mit einem Knall zugefallen. Ich öffnete die Tür nochmals, zog den Schlüssel ab, steckte ihn in die Anoracktasche, nahm meine Taschen auf und stieg die Treppen zu meiner Wohnung hinauf. Als ich meine Wohnungstüre endlich aufgeschlossen hatte hörte ich Tapsen und Keuchen. Neugierig blieb ich stehen. Wollte wissen, wer da die Treppe herabgestiegen kam. Das Tapsen und Keuchen kam immer weiter herunter. Zuerst sah ich ausgetretene, braune Schuhe und Hände, die sich schwer auf dem Geländer abstützen. Als dieser Jemand den Kopf hob und ich erkannte, wer vor mir stand wünschte ich mir, meiner Neugier nicht nachgegeben zu haben. „Oh nein! Auch das noch!“ fluchte ich lauthals. Ärgerlich fauchte Stoni-Else mich an: „Du! Was machst Du denn hier?“ Ich sah in das gerötete Gesicht der alten Frau, als meine erste Verlegenheit verflogen war. „Bitte“, entfuhr es mir, „ich möchte sie um Verzeihung bitten, dass ich ihnen weh getan habe.“ Als ich zu einer Erklärung ansetzte, wischte sie diese wie eine lästige Fliege mit ihrer Hand beiseite. „Lassen sie mich einfach in Ruhe!“ schnauzte sie mich an und schlurfte keuchend den letzten Treppenabsatz hinunter in Richtung Ausgang.

Ich schloss meine Wohnungstür hinter mir und lehnte mich mit dem Rücken dagegen. Stoni-Else hatte vollkommen recht, wenn sie meine Entschuldigung nicht anhören wollte. Ich hatte mich unmöglich benommen und mich in eine völlig unhaltbare Situation hinein manövrieren lassen.

Ich weiß nicht, was meine Chefin vorhatte, aber es war das erste Mal seit ich hier arbeitete, dass Ursel pünktlich Feierabend machen wollte. Gerald war nicht gekommen, also hatte ich die Gäste bedient und Ursel hatte gleichzeitig Bier ausgeschenkt und die wenigen Gerichte zubereitet, die bestellt worden waren. Jedem einzelnen Gast hatte ich heute mehrmals erklären müssen, dass wir pünktlich schließen würden und mit einigen hartnäckigen Stammkunden, hatte es ausführliche Diskussionen gegeben, bis sie begriffen, dass ich sie nicht auf den Arm nahm. Jetzt saßen nur noch drei Mann an den Tischen und als ich Stoni-Else zur Tür hereinwanken sah, reichte es mir endgültig. Die Chefin sah zur Uhr und stellte mir einen Kräuterlikör auf die Theke. „Kassiere sofort und sage ihr, dass sie gleich gehen soll, wenn sie ausgetrunken hat.“ raunte sie mir zu. Ich nahm das Glas, stellte es vor der alten Frau auf den Tisch, kassierte bei ihr und den restlichen Gästen, die sich danach gleich auf den Heimweg machten. Ich hatte gerade begonnen die Tische abzuwischen und als ich sah, dass Stoni-Else mit ihrem leeren Glas auf dem Weg zur Theke war, nahm ich es ihr aus der Hand, drehte sie zur Tür und führte sie zum Ausgang. Doch bevor ich die Türe geschlossen hatte, schubste sie mich zur Seite und war bereits wieder auf dem Weg zur Tränke. Ursel zischte mich wütend an, dass sie keine Zeit hatte und als alles Zureden und sanft hinausbegleiten nichts half, gab ich Stoni-Else einen Tritt, damit sie nicht gleich wieder hinter mir zur Türe hereinkommen konnte. Doch offensichtlich hatte ich ein wenig übertrieben, denn die alte Frau stolperte die Treppe hinunter und fiel auf das Pflaster. Sie sagte kein Wort, aber wie sie mich ansah, werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Ich hatte sie loswerden, ihr aber keineswegs Schmerzen zufügen wollen. Unwillig schob sie meine Hand zur Seite, die ich ihr reichte, um ihr auf die Beine zu helfen. So stand ich nur hilflos auf der Treppe und beobachtete, wie sie sich mühsam hochrappelte. Schließlich ging ich zurück, um die Tür abzuschließen und meine Arbeit zu erledigen.

* * *

Das Leben war ungerecht. Die alte Frau wollte nicht an diesen Abend erinnert werden. Sonst gab es im Volkshaus doch auch nach Feierabend immer noch etwas zu trinken. An diesem Tag sollte auf einmal pünktlich Schluss sein. Das hatte sie überhaupt nicht eingesehen. Dünkte sich so viel besser als sie, dieses kleine Luder. Nur die Stelle, an die dieses Miststück sie getreten hatte, tat weh. Vorsichtig rieb sie sich ihre Rückseite. Es war ein gemeiner, schmerzhafter Tritt gewesen. Dieses Biest hatte sie grob durch die Türe geschubst, hatte sie die Treppen vor dem Haus hinunter gestoßen und danach trotzdem noch zugetreten. Hi, hi, war aber ordentlich zusammengezuckt, als sie sie angesehen hatte. Was bildete die sich denn ein? War doch auch nur eine, die von der Alten hinter der Theke herumgestoßen und angebrüllt wurde. Na, ihr konnte es egal sein, es war Anfang des Monats und sie hatte sich Geld vom Amt geholt. Endlich konnte sie wieder zum Markt zu ihren kumpels gehen. Dort schmeckte es allemal am Besten.