ABER

Für mich war mein Vati mehr als dreißig Jahre lang, der wichtigste Mensch in meinem Leben. Er war eine Instanz, wie Gott für einen Gläubigen oder mein Hausarzt. Der Grund dafür war nicht nur, dass er eben mein Erzeuger und ich, wie fast alle Mädchen ein typisches Papakind war, sondern weil er wirkliche Autorität besitzt, die nicht von einer Machtposition ausgeht sondern allein aus einem Menschen selbst kommt. Mein Vater ist ein Mann mit goldenen Händen, dem einfach alles gelingt, was er anpackt. Gepfuscht hat er in seinem Leben nur ein einziges Mal, jedenfalls soweit ich das beurteilen kann und das war, als er mich gezeugt hat. Da hat er nur an sein Vergnügen gedacht, es war der erste Schuss und der ist voll daneben gegangen, denn ich bin alles, was er nicht ist: gefühlsbetont, schusslig, rebellisch und chronisch unordentlich. Das sind Eigenschaften, die ihn zur Weißglut bringen. Nun, ja, wie er selbst hierzu bemerkte: die Reklamationsfrist ist schon seit langer Zeit abgelaufen. Ich jedoch nahm ihn, wie er war und deshalb war er für mich der beste Papa der Welt, ein starker Mann, der mich, als ich noch leicht genug dazu war, mit beiden Armen hochwirbeln und fliegen lassen konnte, der alles wusste und alles konnte. Er hatte immer die besten Ideen zum Basteln. Da war zum Beispiel die B-Meise, eine Kugel, welche man in einer Hülle aus Alufolie hin und her rollen lassen konnte. Diese hatte er sich ausgedacht, als ich zur Schule gekommen war und ihn mit der Frage nervte, ob denn, wenn es eine A-Meise gibt, dazu auch eine B-Meise existiert und er die Fragerei satt hatte.

Einmal baute Vati ein Boot, ein Kanu, mit dem wir die herrlichsten Paddeltouren unternahmen, wenn unsere Familie nach Mecklenburg in den Urlaub fuhr. Mit diesem Boot verknüpfe ich noch heute, mein schönstes Erlebnis mit ihm. Unsere Familie war in den Herbstferien wieder einmal in Canow, der Betrieb, in dem Vati arbeitete, hatte dort Bungalows für die Mitarbeiter gebaut und wir waren fast jedes Jahr dort. Vati wollte eine Bootstour unternehmen und Mutti fühlte sich nicht wohl oder hatte keine Lust mitzukommen. Also fuhr der alte Herr mit mir alleine los. Es war ein wunderbar klarer, frischer Herbsttag, voller Harmonie und Ruhe. Wir paddelten eine große Runde, durch viele Seen und Kanäle und rasteten unterwegs an einem der Seeufer. Als wir zurück kamen, war es schon dunkel geworden, der Mond schien, mit einem blassen, hellgelben Schein drum herum. Erlen, Buchen und Fichten säumten dunkel die Kanäle, welche die Seen miteinander verbanden und vereinzelt leuchtende Sterne spiegelten sich im Wasser des Labusees, den wir zuletzt überqueren mussten, um das heimatliche Ufer zu erreichen.

In meinen Augen war Vati perfekt und seine Ansichten waren für mich Gesetz. Ich habe ihm nachgeeifert, wollte so sein wie er, bis zu dem Tag, an dem ich feststellte, dass ich dieses Ziel wohl nie erreichen würde. Es war der Tag, an dem mein Vater sich wieder einmal über meine „Sauwirtschaft“ ereiferte. Ich ärgerte mich darüber nicht nur, weil er seinen Unmut im Beisein von Freunden äußerte und mir das peinlich war, sondern auch, weil ich bestimmt über ein Dutzend guter Eigenschaften verfüge, die er nicht sieht, weil er seit mehr als dreißig Jahren immer nur auf meinen Fehlern herum hackte. Egal, wie sehr ich mich anstrengte, egal, was ich auch anstellte - es kam immer ein riesiges „ABER“ hinterher. Sicher kennen Sie das auch? Sie geben ihr Bestes, legen sich richtig ins Zeug und dann kommt von einem Menschen, der Ihnen viel bedeutet die Aussage: „Das ist ja ganz schön, ABER …“ Es gibt nichts, was beängstigender, entmutigender und demotivierender wäre. Anderen Menschen muss es ähnlich ergangen sein, denn wahrscheinlich stammt das sarkastische Gebet: „Gott bewahre mich vor meinen Freunden, vor meinen Feinden kann ich mich selbst schützen.“ von einem von ihnen. Von einem Feind erwarte ich nichts Gutes, aber wenn mein Lieblingsmensch mir den Mut nimmt, wo er mich eigentlich aufbauen sollte, hat das verheerende Folgen, denn ich hatte jahrelang das Gefühl irgendwie verkehrt zu sein.

Irgendwann hatte ich es aufgegeben seinen Ansprüchen gerecht werden zu wollen und nie hatte ich mir etwas sehnlicher gewünscht, als dass der alte Herr ein einziges Mal zufrieden war, mit dem, was ich tat - ohne dieses riesige „ABER“, neben dem alles Gute zu verblassen und nichts mehr wert zu sein schien. An diesem Tag begriff ich, dass sich in mir immer noch das kleine Mädchen versteckt hielt, welches sich von ganzem Herzen wünschte, dass sein Vati es mal in den Arm nimmt und ihm sagt, dass er es so lieb hat, wie es ist.

Ich war Mitte Dreißig, als mir dieser Wunsch in den Sinn kam und mir überhaupt erst einmal bewusst wurde, welch wichtige Rolle mein Vater in meinem Leben noch immer spielte, wenn seine Äußerung mich derartig verletzten konnte - immerhin war ich zu dem Zeitpunkt bereits glücklich geschieden und zum zweiten Male neu verliebt und fand, dass es allmählich an der Zeit war, dass andere Menschen in meinem Leben die Hauptrolle übernahmen. Leider kann man sich seine Gefühle nicht aussuchen und deshalb vergaß ich diesen Wunsch irgendwann, nachdem ich mich damit abgefunden hatte, dass Vati mir diesen einen Gefallen wohl nie tun würde, denn mit den Wünschen hat es eine eigene Bewandtnis. Es gibt Wünsche und Wünsche. Für die einen ist man selbst zuständig, wie zum Beispiel für Dinge, die man unbedingt besitzen oder eine Urlaubsreise, die man unbedingt unternehmen möchte. Was aber macht man mit Wünschen, die man sich selbst nicht erfüllen kann, wenn die guten Feen seit Jahrhunderten ausgestorben sind? Nichts ist vergeblicher als sich etwas zu wünschen, dessen Erfüllung abhängig von anderen Menschen ist. Es war ein beliebter Ausspruch meines Erzeugers, dass die Zeiten, als das Wüschen noch geholfen hat unwiederbringlich vorbei sind. Außerdem hatte wenigstens ich inzwischen gelernt mich zu mögen, wie ich bin und mir auf die Schulter zu klopfen, wenn ich mit meiner Leistung zufrieden war, sodass ich auf die Anerkennung meines alten Herrn nicht mehr so angewiesen war. Heute bin ich froh darüber, dass ich es nicht geschafft habe, so zu werden, wie er mich haben wollte, oder besser, wie ich glaubte, wie er mich haben wollte und stolz darauf, dass ich mir einen eigenen Weg gesucht und mich in eine völlig andere Richtung entwickelt habe, als er es sicherlich erwartet hatte. Es war eine wunderschöne Erfahrung mich auf einer Entdeckungsreise zu mir selbst kennen zu lernen und ich war manches Mal sehr überrascht, was für ein lebensfroher, unkonventioneller Mensch dabei zum Vorschein kam.

Manchmal jedoch, werden Träume wahr, auch wenn es ein wenig länger dauert. Ich war so überrascht, als mein Wunsch, nach mehr als zehn Jahren in Erfüllung ging, dass ich es nicht einmal bemerkt habe. Jedenfalls nicht sofort.

Dieses Jahr im April wurde Vati neunundsechzig Jahre alt. Als ich anrief um ihm zu gratulieren, lud er mich ein, am Abend zusammen mit ihm und Mutti griechisch essen zu gehen. Wir trafen uns vor dem Restaurant und als wir darin Platz genommen und unser Essen bestellt hatten sprach Mutti mit mir über einige Kurzgeschichten, die ich geschrieben, ausgedruckt und ihr zum Lesen gegeben hatte. Mutti schreibt selbst, aber natürlich hatte ich ihr die Geschichten nicht wirklich gegeben, weil ich mir konstruktive Kritik von ihr erhoffte, sondern weil ich mal gelobt werden und ein bisschen Honig ums Maul geschmiert haben wollte. Ich konnte ein wenig Aufmunterung brauchen, aber die meisten meiner Geschichten rissen sie nicht gerade zu Begeisterungsstürmen hin. Mit Kritik ist es immer so eine Sache, wenn man sich mit Begeisterung an eine Aufgabe macht und dann von einem total wichtigen Menschen nur ein laues „na ja, ganz nett“ als Rückmeldung kommt, macht sich unweigerlich Enttäuschung breit.

„Sag mal“, unterbrach Vati unser Gespräch, „woher nimmst du nur die Ideen für deine Erzählungen? Soweit ich mich erinnern kann, waren Aufsätze doch früher nicht gerade deine Stärke. Ich stelle mir das schwierig vor. Bei mir würde aus den Themen, die du wählst immer nur ein Absatz werden und ich staune, wie du ausholst, philosophierst und eine kurzweilige, lebendige Geschichte daraus machst.“

„Wow“, dachte ich, „Was hat denn den alten Herrn gebissen?“ Sein Gesicht strahlte, die Augen leuchteten, während er das sagte und er sah so stolz aus, als hätte ich gerade die Mathe-prüfung mit Note Eins bestanden. Das kam ja nun total unerwartet. Mit Anerkennung war ich von ihm nie verwöhnt worden und dabei hatte ich nur den Rat eines guten Freundes befolgt, der mich sinnbildlich in meinen Allerwertesten getreten hatte, wieder mit dem Schreiben zu beginnen, nachdem ich mir den Traum, ein Buch zu veröffentlichen erfüllt hatte und mich auf meinen Lorbeeren ausruhen wollte. Wie das so ist, der Appetit kommt beim Essen und die Ideen beim Schreiben und deshalb hatte ich mit wachsender Begeisterung losgelegt und meine Antwort war deshalb auch für mich überraschend. „Jetzt schreibe ich zu meinem Vergnügen, kann mir mein Thema selbst aussuchen und muss nicht schreiben, was meine Deutschlehrerin hören will.“ erklärte ich ihm und wartete auf das große ABER, das nun unweigerlich folgen musste, irgendetwas würde er ja wohl auszusetzen haben. Aber da kam nichts nach, keine Kritik, kein „ABER“ und das bei einer Sache, die mir mit Leichtigkeit von der Hand gegangen war, die mir Spaß gemacht und mich keine großartigen Anstrengungen gekostet hatte. Da war ich erst mal platt.

Dann brachte der Ober unsere bestellten Speisen. Nachdem er vor jeden einen Teller mit dampfendem, leckerem Essen gestellt und dazu Salat und Brot aufgetafelt hatte, ließen wir uns mit gutem Appetit das üppige Mal schmecken. Davon wurde ich erst einmal abgelenkt.

Erst nach drei Tagen schlug schließlich der Blitz bei mir ein. Und nun dürfen Sie drei mal raten warum!