Vanessa

 

Ich bin eine begeisterte Köchin und so, wie ich kein Essen ohne Salz zubereiten würde, weil ohne diese kleinen weißen Krümel etwas ganz Wesentliches fehlt, so sind die Begegnungen mit meinen Mitmenschen die Würze meines Lebens. Wie beim Kochen allerdings, ist auch hier das Maß wichtig, zu viel ist einfach ungesund. Jedoch, in der richtigen Menge gewürzt, sind Essen und Leben etwas ganz wunderbares, was ich von ganzem Herzen genießen kann. Zufallsbegegnungen haben mich immer inspiriert, aufgemuntert oder amüsiert. Keines dieser Erlebnisse hat mich jedoch jemals so tief berührt, wie die Begegnungen mit Vanessa, vielleicht, weil sie mir auf ihre eigene Art und Weise beibrachte, wie einfach es ist, seine Ziele zu verwirklichen. Natürlich hatte sie Hilfe dabei und die brauchte sie auch dringend, jedoch hat sie mir, ohne dass sie es beabsichtigte Mut gemacht, endlich daran zu gehen, mir meine eigenen Träume zu erfüllen, denn Träume sind nur dann etwas Wundervolles, wenn sie einem Menschen genügend Energie verleihen, diese auch in die Tat umzusetzen ohne sich von jeder Schwierigkeit aus der Bahn werfen zu lassen.

Vanessa lächelte immer. Ihr Sonnenscheinlächeln war es, was ich als erstes von ihr wahrnahm, wenn sie mir auf ihrem Dreirad entgegen gefahren kam und es erreichte mich, lange bevor sie bei mir war. Dieses Lächeln tat weh irgendwann, denn je besser ich sie kennen lernte, je mehr Vanessa mir von sich erzählte umso bewusster wurde mir, dass sie dieses Lächeln wie einen Schutzschild vor sich her trug. Ein strahlendes Lächeln als Schutz gegen Häme, Beleidigungen und Zurückweisungen, mit dem sie allen, die es sehen wollten sagte: „Ihr könnt mich verspotten, aber meinen Lebensmut lasse ich mir deshalb nicht nehmen.“

Unsere Gespräche verliefen immer nach dem gleichen Muster. Ich grüßte sie mit einem fröhlichen „Hallo Vanessa, wie geht es Dir?“ und wenn sie dann von ihrem Rad abgestiegen war, war ihre erste Frage an mich immer die, woher wir uns kennen. Daraufhin erklärte ich ihr, dass ihr Vater oft zu Gast im Volkshaus war, der Fußballerkneipe, in welcher ich noch vor einigen Jahren Soljanka und Schnitzel mit Bratkartoffeln zubereitete. In diese Gaststätte hatte sie ihren alten Herrn einmal begleitet, als er eines Tages nur kurz herein kam, um einige Flaschen Bier zu kaufen. Meist berichtete Vanessa mir danach voller Stolz von irgendeiner Sache, die sie gerade beschäftigte, etwa, dass sie gerade in einem Abendkurs in Leipzig die zehnte Klasse nachholte. Dass ihre Kollegen sie deshalb hänselten erwähnte sie - immer noch lächelnd - leise in einem Nebensatz, den man leicht überhören konnte, wenn man nicht aufmerksam zuhörte. Wissen Sie, mir haben Menschen, die alles, was sie nicht verstehen, dumm finden und daher ablehnen oder verspotten immer Angst gemacht und ich an Vanessas Stelle hätte mich geweigert diese Arbeit weiterhin zu tun. Sie arbeitete in der Küche des Wurzender Krankenhauses als Küchenhilfe und diese Arbeit ist auch schon schwer genug, ohne dass man von einer Ecke in die nächste geschubst und wegen jeder Kleinigkeit, die nicht gleich wie erwartet klappt, ausgelacht oder beleidigt wird.

Die Begegnungen mit Vanessa taten mir gut, sie war arglos und bei ihr lief ich nicht Gefahr irgendetwas falsch zu machen. Vanessa berichtete das Schöne, wie das Schlimme, das ihr begegnete immer mit einer Art Abgeklärtheit, ohne zu fluchen oder zu weinen und vielleicht berührte mich ihre Art deshalb so tief, weil alles was sie erzählte immer ohne Wertung, auf eine leise Art und ohne Kritik daherkam.

Eine Mitpatientin in einem Krankenhaus hatte mir einmal ganz nebenbei erzählt, dass sie erst, als sie in die Schule kam begriff, dass das, was ihr Vater mit ihr tat, nicht zur Vaterliebe dazu gehört. Mein Magen rebellierte, bevor mir klar wurde WAS die junge Frau mir da gerade erzählt hatte und genauso erging es mir mit der Art, in der Vanessa über Dinge redete, die ihr weh tun und die sie kränken mussten.

Eine kleine Drüse in ihrem Hals stellte nicht genügend Hormone her und wenn Störungen dieser Botenstoffe im frühen Kindesalter auftreten, kann dies schwere körperliche und geistige Schäden nach sich ziehen. Aus diesem Grunde litt Vanessa neben anderen Einschränkungen auch unter Gleichgewichtsstörungen - deshalb das Dreirad und deshalb ihre kindliche Art. Denn genauso wirkte Vanessa auf mich: wie ein scheues Kind, das sich verlaufen hat und das man deshalb ein Stück auf seinem Weg begleiten und vor allem Bösen bewahren möchte. Doch Vanessa wusste genau, wohin sie unterwegs war - sehr viel besser sogar, als manche andere Menschen.

Sie müssen sich vorstellen, dass Vanessa und ich uns nur sehr selten und wenn, dann zufällig über den Weg liefen. In den vielen Jahren, in denen wir uns hin und wieder begegneten haben wir insgesamt vermutlich gerade einmal ein zweistündiges Gespräch geführt. Aber, so kurz diese Gespräche auch waren, interessant waren sie jedes Mal. Eines Tages erzählte Vanessa, unsicher lächelnd, dass sie gern Nonne in einem Kloster werden wollte. Ich nahm das zur Kenntnis, freute mich für sie, dass sie ein Ziel vor Augen hatte und dachte mir nichts weiter dabei, denn ich unterschätzte die Hartnäckigkeit mit der sie ihre Absicht verfolgte. Immer, wenn wir uns wieder einmal trafen, berichtete sie, dass sie jetzt in der jungen Gemeinde war und beim Behindertengottesdienst helfen durfte. Aber es gab nicht nur Gutes zu berichten, denn auch Christen sind nur Menschen. Als Vanessa einmal mit der jungen Gemeinde mehrere Tage unterwegs war, wollte beispielsweis niemand mit ihr in einem Zimmer schlafen. Ich fand dieses Verhalten ziemlich heuchlerisch, weil es ja wohl aussagt, dass Vanessa zwar in der Kirche als Institution willkommen war, dort aber wieder einmal niemand etwas mit ihr zu tun haben wollte, weil sie, wenn auch ohne Worte, die Ansage erhielt, dass sie nicht nerven und sich in ihr Eckchen verkrümeln sollte. Mag sein, dass ich ungerecht bin, denn ich kenne nur Vanessas Version des Geschehens und habe in ihre Schilderung vielleicht etwas völlig Falsches hinein interpretiert. Immerhin kenne ich die Frau, die Vanessa ermutigte sich in der Kirche zu engagieren, welche mit Sicherheit in guter Absicht gehandelt hat und bestimmt nicht wollte, dass sie veralbert wird. Letztendlich hat Vanessa es mit deren Hilfe und der Initiative vieler anderer Menschen, wenn auch erst nach einigen Jahren, tatsächlich geschafft, dass sie ihren Wirkungskreis jetzt als Diakonisse beim Diakonischen Werk in Elbingerode hat.

Einmal ist mir Vanessa in ihrer weiß getüpfelten, dunkelblauen Tracht, mit weißem, gestärktem Häubchen auf dem Kopf in Wurzens größtem Supermarkt begegnet, als sie in Begleitung ihrer Familie einkaufen war. Ich freute mich riesig sie zu sehen und freudestrahlend lief ich zu ihr, um sie zu begrüßen. Als ich mich erkundigte, wie es ihr denn jetzt geht, fragte sie mich, woher wir uns kennen. Wie konnte es anders sein! Als ich ihr antworten wollte, winkte sie ab, erklärte mir stolz lachend, dass sie jetzt gerade überhaupt keine Zeit für mich habe und war im nächsten Gang verschwunden. Ich staunte. Mann, hatte Vanessa neuerdings ein Selbstvertrauen! Seitdem habe ich sie lange Zeit nicht wieder gesehen.

* * *

Vor mir saß eine lebensfrohe, selbstbewusste, glückliche junge Frau. Das konnte ich auf den ersten Blick sehen, auch wenn ich Vanessa in ihrer schickenTracht nicht sofort erkannt hatte. Eines hatte sich jedoch überhaupt nicht geändert: ihr Lächeln war immer noch das gleiche, strahlende, wie ich es in Erinnerung hatte.

Es war mehreren Zufällen zu verdanken, dass wir uns hier in Elbingerode wiederbegegneten. Ich hatte ihre Anschrift ausfindig gemacht, wir hatten uns Briefe geschrieben, auch einige Male telefoniert und schließlich zu einem Treffen verabredet. Ich hatte eine Wanderung durch den Harz von Gernrode über Thale und Treseburg nach Elbingerode unternommen und nun saßen wir in Vanessas gemütlichem Zimmer, waren froh, uns zu sehen und wussten nicht gleich, worüber wir reden sollten. Als schließlich der Damm gebrochen war, schilderte Vanessa ihre Probezeit als junge Diakonisse und wie sie nach zwei Jahren schließlich in deren Kreis aufgenommen worden war. Seit sie hier lebte, war ihr Leben mit Aktivitäten ausgefüllt. Stolz schwang in ihrer Stimme mit, als sie mir berichtete, dass sie eine Ausbildung als Sozialassistentin abgeschlossen hatte. Während sie mir ihr Zeugnis zeigte, erzählte Vanessa begeistert, dass sie im Schwesternchor singt, außerdem im Handarbeitszirkel bastelt und malt und an Bibelstunden und Ausflügen teilnimmt, wenn ihre Arbeit im hauswirtschaftlichen Bereich erledigt ist. Ich kam aus dem Staunen nicht heraus: die bei den Diakonissen verbrachten Jahre hatten Vanessa unglaublich verändert. Diese Veränderung war schon bei unserer Begrüßung spürbar gewesen, die junge Frau wirkte auf mich, wie ein Mensch, der sich in seinem Leben zu Hause fühlt - voller Tatendrang, Lebenskraft und Selbstvertrauen, seit ihre Talente durch die Gemeinschaft in der sie jetzt lebte, gefördert worden waren. Es war beeindruckend, wie sehr es Vanessa beflügelte, dass andere Menschen an sie und ihre Fähigkeiten glaubten und wie viel sie dadurch erreicht hatte. Ich war von ganzem Herzen froh, dass Vanessa in einer Gemeinschaft lebt, in welcher sie gebraucht wird, in die sie sich mit ihren Fähigkeiten einbringen kann und in der sie dazu auch Anerkennung und Liebe durch ihre Mitschwestern erlebt.

Außerdem hatte Vanessa eine Führung organisiert. Schwester Kerstin begleitete uns durch das Diakonissen-Mutterhaus und ich erfuhr viel Wissenswertes über das Gebäude, aber auch über das Zusammenleben der Schwestern, sodass die Zeit wie im Fluge verging. Nach all den vielen neuen Eindrücken schlenderten Vanessa und ich munter schwatzend durch den Ort Elbingerode. Als wir uns nach einem erlebnisreichen Tag als Freundinnen von einander verabschiedeten, wusste ich, dass Vanessa ihren Platz im Leben gefunden hat. Vor der Tür der Jugendherberge, in der ich in jener Nacht schlief, umarmte Vanessa mich lachend und dieses Lachen tat nicht mehr weh.