ABSCHIED VOM PARADIES

 

 

Der Schnee von gestern ist das Wasser von morgen.

 

Peter Hahne

(deutscher evangelischer Theologe und Publizist)

 

Ich hasse Abschiede und kann mich an keinen in letzter Zeit erinnern, der mir so schwer gefallen ist, wie dieser. Der Glaube, ich müsste im Laufe der Zeit gelernt haben mit dem dazugehörigen Gefühl des Verlustes fertig zu werden ist trügerisch, jeder Abschied ist anders und jeder ist anders schlimm. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass ich es war, die sich entschieden hat zu gehen und es hat keinen Sinn mir etwas vorzumachen, so leicht mir der Entschluss gefallen ist, mich nach einer neuen Arbeitsstelle umzusehen, so schwer fällt es mir jetzt, diesen in die Tat umzusetzen. Der Gedanke, dass ich fortgehen muss, deprimiert mich so sehr, dass es mir nicht gelingen will, nach vorn zu sehen, statt darüber traurig zu sein, dass ich noch nie mit so viel Energie und Einsatz so wenig zuwege gebracht habe, wie dieses Mal. Wenn Sie jemals mit ganzem Herzen und aller Begeisterung deren sie fähig sind ein Ziel verfolgt und dieses nicht erreicht haben, können Sie sich vielleicht vorstellen, wie mir gerade zumute ist. 

Wie schon so oft bin ich auf dem Radweg von Grimma nach Wurzen unterwegs. Mein Tretross habe ich an einen Baum gelehnt. Im dürftigen Schatten eines Holunderstrauches, am Ufer der Mulde sitzend, grüble ich darüber nach, wie es so weit kommen konnte, dass ich eine Arbeit aufgeben will, für die ich mich doch mit aller Kraft eingesetzt habe. Ich brauche jetzt die friedliche Stille um mich herum, um meinen inneren Frieden wieder zu finden. Erstaunlich, mit welcher Intensität ich die unglaubliche Lebendigkeit und pure Lebenskraft dieses Sommertages wahrnehme, dessen Glut drückend über den Muldenauen liegt, eine Vitalität und Kraft, die in diesem Moment fast zu viel für mich wird. Es ist so heiß, dass selbst der Wind Mittagsruhe hält, die glatte Oberfläche des behäbig dahinfließenden Flusses spiegelt eine einzige kleine weiße Wolke, die einsam am tiefblauen Himmel dahinsegelt, ein Blau, das die Augen blendet und das so nur ein Hochsommertag hervorbringen kann. Unter diesem unendlichen Himmel räkelt sich die Erde schläfrig in der sengenden Mittagshitze des Julitages und das kräftige Grün der Bäume, die den gegenüber liegenden Felsen bedecken, wetteifert mit dem leuchtenden Gelb, der in flirrender Ferne schlummernden Weizenfelder. Ein roter Ruderkahn, der an einem Steg festgebunden ist, verlockt zur Flucht vor den quälenden Gedanken, die bisher immer nur im Kreis laufen, ohne zu einem Ergebnis zu führen.

Vorläufig komme ich jedoch noch nicht dazu meine Gedanken in geordnete Bahnen zu lenken. Das heulende Elend packt mich, ich wehre mich nicht mehr dagegen, schließlich habe ich mich in diesen abgelegenen Winkel verkrochen, um allein zu sein. Niemand sieht und hört mich hier, ich lasse mich von dem Schluchzen durchschütteln und meine Tränen spülen Frust und Anspannung der letzten Wochen buchstäblich den Fluss hinunter. Ich habe kein Zeitgefühl mehr und weiß nicht, wie lange es dauert, bis ich mich wieder beruhigt habe. Danach fühle ich mich erschöpft und einigermaßen entspannt. Erleichtert nehme ich wahr, dass ich nicht mehr orientierungslos in dem riesigen Ozean aus Selbstmitleid treibe, in dem ich in letzter Zeit fast ertrunken bin. 

Was, verdammt noch mal, habe ich nur falsch gemacht? Dieser Gedanke tut mir komischerweise nicht mehr weh, es ist nur wichtig für mich meinen Fehler herauszufinden, denn irgendeinen Sinn muss das, was geschehen ist doch gehabt haben, sonst würde mir die Sache nicht so nahe gehen. Ich habe mich immer geweigert, zurück zu blicken, weil es nichts bringt in der Vergangenheit herumzuwühlen, besonders, wenn diese Erinnerungen nicht erfreulich sind, aber heute werde ich von dieser Regel eine Ausnahme machen und bin neugierig, was ich am Ende meines Weges herausfinden werde. Genau dazu bin ich hier - einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen, weil ich weiß, dass ich erst dann unbeschwert und ohne Selbstvorwürfe in die die Zukunft blicken kann, wenn ich auf meine Frage eine befriedigende Antwort gefunden habe. 

Zunächst einmal hatte alles sehr vielversprechend begonnen: Mit achtunddreißig Jahren begann ich eine zweite Ausbildung und wurde Azubine in einer Anwaltskanzlei. Zwei Jahre lang hatte ich mir vor dem Sozialgericht die Chance auf eine Berufsausbildung als Rechtsanwaltsfachangestellte von der Rentenversicherung erstreiten müssen, als feststand, dass ich meinen Traumberuf als Köchin aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausüben durfte. Zwar war es von Beginn an ein Kampf gegen meine Unzulänglichkeiten, denn ich bin schusslig, chaotisch und chronisch unordentlich und wegen dieser Unarten in einem Büro im Grunde völlig fehl am Platz. Da mir die Rentenversicherung jedoch keine andere Wahl gelassen hatte nahm ich mir vor, das Beste aus der Situation zu machen, was gar nicht so schwierig war, denn meine Freundin Sandy, die mir den Praktikumsplatz verschafft hatte, wurde meine Ausbilderin und Herr Meyer, der Boss in unserem Büro, war ein Bilderbuchchef und der absolut beste Lehrausbilder, den ich bis dahin erlebt hatte. Bis zu dem Zeitpunkt war mir nur einmal, eine Frau begegnet, die als Lehrerin echtes Talent besaß. Frau Weiße, war eine Frau nach meinem Herzen, bei ihr machte Lernen Spaß, denn sie peppte selbst den trockensten Stoff mit praktischen Beispielen auf und weckte damit Neugier auf den Unterricht, was ihr allein schon meine Aufmerksamkeit sicherte. Hinzu kam jedoch, dass sie eine Art Autorität ausstrahlte, die man niemandem verleihen kann. Sie war forsch, ohne tyrannisch, ernst ohne humorlos und genau ohne pedantisch zu sein. Auf ihre lebensfrohe Art und noch dazu mit der Hälfte ihrer Energie erreichte sie viel mehr, als wenn sie mit dem Druck und der Verbissenheit vorgegangen wäre, die die meisten Menschen an den Tag legen, wenn ihnen Verantwortung übertragen wird. Sie vermittelte Wissen spielerisch und Lernen war bei ihr eher ein interessanter Nebeneffekt, als ein lästiges Muss. Das männliche Pendant hierzu war Herr Meyer. Von ihm lernte ich viel, ohne dass er jemals belehrend wurde, er nahm sich immer die Zeit, meine Fragen zu beantworten und als Gesprächspartner war er einfach unschlagbar. Es bereitete mir so viel Freude ihm zuzuhören, dass ich seine Mitteilsamkeit hin und wieder schamlos ausnutzte, wenn ich die vielen kurzen, langen und noch längeren Bänder abschrieb, die er diktiert hatte und entweder meine Konzentration nachließ oder ich auf diese stupide Arbeit keine Lust mehr verspürte. Dann täuschte ich, anfangs zumindest, Interesse an rechtlichen Zusammenhängen vor, die er in seinen Schreiben darlegte, welche später an Gerichte, Gegner oder unsere Mandanten versendet wurden. Ich weiß nicht, ob er mich durchschaute, aber geduldig erklärte er mir alles, was ich wissen zu wollen vorgab, sodass ich schließlich immer um einige interessante Informationen reicher war und wenn ich Herrn Meyer mit den Vorgesetzten verglich, die ich bis dahin hatte, dann war ich dankbar für sein Verständnis, seine Geduld, seinen Humor und am allermeisten dafür, dass er nicht gleich jedes Mal wütend wurde, wenn mir mal ein Fehler passierte. Er stellte nur irgendwann einmal fest, dass ich beim Fehlermachen unglaublich kreativ sein konnte und wir rissen Witze darüber, dass ich die Büroarbeit, als Strafe bekommen hatte, weil ich meine Gesundheit nicht ernst genug genommen hatte. Kurz und gut, ich war zufrieden und hatte das Gefühl, dass ich, egal, wie lange ich danach suchen würde, nie wieder eine bessere Arbeit finden würde und diese Meinung hat überhaupt nichts mit Schwärmerei zu tun, ich hatte Dinge auf früheren Arbeitsstellen erlebt, die mich wünschen ließen, dass diese schöne Zeit nie zu Ende gehen möge.

Ganz spontan, fällt mir hierzu eine der Szenen ein, die bezeichnend dafür sind, wie Chefs mit Angestellten umgehen, wenn sie glauben, sich in ihrem Unternehmen wie kleine Diktatoren aufführen zu können, in der Annahme, dass ihre Mitarbeiter froh sein müssen Arbeit zu haben, da es ja so viele Arbeitslose gibt, die diese Stelle mit Vergnügen und auch noch für weniger Lohn sofort annehmen würden.

Der Job in der Großküche, in welcher ich arbeitete, war nicht nur körperlich sehr schwer, sondern auch der Umgang mit den Fehlern, die passierten war äußerst rüde.

Wir waren insgesamt zehn Kolleginnen, zumindest in den Ferien, wenn nicht viel zu tun war. Sobald die Schule wieder losging und wir für Eintausend Schüler Mittagessen zubereiten mussten, flatterten meist gleich zu Beginn, die ersten Krankenscheine auf den Tisch. Mit sieben Mitarbeitern war die Arbeit noch gut zu schaffen; besonders in den Herbstmonaten, war es allerdings wie in dem Lied mit den zehn kleinen Negerlein - eine Kollegin nach der anderen blieb wegen Grippe zu Hause, bis wir manchmal nur noch zu viert waren. Dann durfte keine von uns mehr krank werden und mich erwischte es immer, dass ich den Anschluss verpasste, rechtzeitig zum Arzt zu gehen. Wenn ich mir eine Bronchitis eingefangen hatte, waren wir meist nur noch zu viert oder einmal gar zu dritt und mich krank zu melden verbot mir die Ehre, weil ich die beiden anderen Kolleginnen nicht im Stich lassen wollte. In jeder unserer zwei Essensausgaben musste dann eine von uns in zwei Pausen jeweils an zweihundert Schüler Essen verteilen, danach Teller und Besteck abwaschen, womit eigentlich zwei Mann voll ausgelastet waren, während die dritte Kollegin unten im Keller die Kessel reinigen und die Küche schrubben musste. Wenn dann der Ansturm vorbei, der letzte Teller im Schrank verstaut und das letzte Messer in den Besteckkorb gefallen war, wusste ich, was ich geleistet hatte und war froh, die Arbeit einigermaßen geschafft zu haben. Ich fühlte mich so beschissen, wie man sich eben fühlt, wenn man schwer arbeitet, statt sich zu Hause auszukurieren und als dann die Chefin hereinschneite und ich statt eines aufmunternden Wortes Schelte bekam, weil ich noch kehren und wischen musste, hatte ich den Kanal gestrichen voll. In der Gemeinschaftsküche habe ich sechs Jahre gearbeitet. Sechs Jahre lang habe ich mir jeden Tag angehört, dass ich die größte Niete der Nation und für alles zu doof und zu langsam bin, sechs Jahre lang hatte ich jeden Morgen Magenkrämpfe aus Angst auf Arbeit zu müssen, sechs Jahre lang habe ich mir jede Niederträchtigkeit bieten lassen, weil ich meinen Arbeitsplatz nicht verlieren wollte und sechs Jahre lang habe ich mir für einen Hungerlohn die Gesundheit ruiniert. Dieser ständige Druck hatte nicht nur zur Folge, dass in meinen Ohren ein Tinnitus zu schrillen begann, sondern auch mein Immunsystem rebellierte, in Folge dessen mir die Milz entfernt werden musste. Aufgrund des Tinnitus schickte - mein Arzt mich zu einer zwölf wöchigen Therapie und - mein Arbeitgeber daraufhin die Kündigung. Endlich - ich fühlte mich grenzenlos erleichtert, obwohl ich die vielen Jahre durchgehalten und um meinen Arbeitsplatz gekämpft hatte.

Ist es nach alledem vorstellbar, dass ich mich in unserem Büro in Grimma wie im Paradies auf Erden fühlte und dankbar war behandelt zu werden wie ein Mensch, der zwar Fehler hat und macht aber trotzdem in Ordnung ist, so wie er ist? Das ich die Lehre trotzdem nach einem Jahr am liebsten abbrechen wollte, hing damit zusammen, dass ich mich nicht konzentrieren kann und deshalb für die meisten Aufgaben viel zu viel Zeit benötigte und auch viel zu viele Fehler passierten - manchmal auch solche, die nicht so einfach wieder auszubügeln waren. Wenn mir eine Arbeit gleichgültig ist, ist es mir herzlich egal, wenn ich was falsch mache, aber in der Kanzlei fühlte ich mich gut aufgehoben und aus diesem Grunde fiel es mir schwer zu akzeptieren, dass ich meine Arbeit nicht so gut erledigen konnte, wie ich mir das wünschte. Es waren schließlich die Schulnachmittage, an denen ich nach der Berufsschule eigentlich noch auf Arbeit fahren musste, die meine Einstellung im Laufe der Zeit langsam änderten. Wenn ich von einer Maßnahme nicht überzeugt bin, habe ich immer Gründe gefunden, die ich vorschieben konnte, um etwas nicht tun zu müssen. Sei es Nachhilfeunterricht oder Arzttermine - ich hatte fast immer etwas Wichtiges vor, um mich erfolgreich davor drücken zu können, nach dem Unterricht noch nach Grimma in die Kanzlei fahren zu müssen. Wenn an den seltenen Tagen, an denen ich nach der Schule doch noch auf Arbeit kam, Herr Meyer mich anlachte und mit gespielter Verwunderung fragte „Na hallo, was machen Sie denn hier?“ klang das ein bisschen wie „Schön, dass sie da sind.“ Da freute sich tatsächlich jemand, dass ich gekommen war, obwohl ich keine Glanzleistungen vollbrachte. Das war ein Ansporn und so beschloss ich irgendwann, dass ich den Nachhilfeunterricht nicht mehr so nötig brauchte und es mir auch ohne ständige ärztliche Untersuchungen gut genug ging. Es gelang mir zwar nicht immer meine Angst davor, Fehler zu machen zu überwinden und machte daher nach wie vor um alles einen Riesenbogen, was ich mir nicht zutraute, aber was ich konnte, tat ich mit Freude und darum ging es langsam aber sicher voran und es gelang mir, wenn auch nur mit knapper Not, die Prüfung zu bestehen.

Als dann Sandy die Stelle bekam, auf die ich mir einige Tage zuvor noch Hoffnungen gemacht hatte, fühlte ich mich innerlich zerrissen. Als sie mich anrief, um mir zu erzählen, dass Herr Meyer sie wieder einstellen würde, war ich einerseits grenzenlos enttäuscht, weil er mir damit zeigte, dass er mir nicht zutraute die Arbeit zu schaffen. Andererseits ist Sandy meine Freundin und ich gönnte ihr von ganzem Herzen, dass sie wieder Arbeit hatte, denn sie war etwa ein Jahr, nachdem ich die Lehre begonnen hatte, entlassen worden, weil sie ihres Kindes wegen nur sechs Stunden am Tag arbeiten konnte und ich hatte daher eine neue Ausbilderin bekommen, die nun ihr erstes Kind bekam. Sosehr ich mich auch für Sandy freute, immer wieder hatte ich den Gedanken, dass ich es am Ende doch geschafft hätte. Als Sandy, kurz nachdem sie wieder bei uns begonnen hatte, krank wurde und wegen ihrer Schulter drei Monate zu Hause bleiben musste übernahm ich ganz selbstverständlich die Vertretung für sie. Das hatte mehrere Gründe und einer davon war, dass ich mir endlich einmal beweisen wollte, dass ich es schaffen würde mit der Arbeit im Büro allein fertig zu werden. Bis zu dem Zeitpunkt hatte ich immer nur stundenweise arbeiten oder mal in einem begrenzten Zeitraum die Urlaubsvertretung für meine Kollegin übernehmen können und war deshalb der Meinung, dass nur einmal die passende Gelegenheit kommen müsste, um zeigen zu können, was in mir steckt. Um es gleich vorweg zu nehmen, das Ergebnis war niederschmetternd. Ich hatte drei Monate lang fast jeden Tag neun bis zehn Stunden damit zugebracht das Pensum zu schaffen, für welches meine Kollegin gerade einmal sechs Stunden benötigte und es nagte beträchtlich an meinem Selbstvertrauen, wie froh ich war, als sie nach den drei Monaten zurück kam und ich die Verantwortung für die Kanzlei wieder in ihre Hände legen konnte. Mein Traum, es in diesem Beruf doch noch einmal weiter zu bringen als bisher, war geplatzt wie eine Seifenblase. 

Von Ferne sehe ich einen Mann über den Muldentalradweg laufen. Du lieber Himmel und das bei der Glut, denke ich, aber die Hitze scheint ihm nichts auszumachen, leichtfüßig und mit weit ausgreifenden Schritten bringt er die Strecke hinter sich. Meine Gedanken schweifen ab, als ich den Läufer in seiner schwarz-gelben Kluft beobachte, der langsam meinen Blicken entschwindet. In Gedanken verweile ich bei diesem Bild, weil ich das starke Gefühl habe, dass es wichtig sein könnte und plötzlich ist es, als würde ein gedanklicher Damm brechen, Fragen wirbeln in meinem Kopf durcheinander, die jene geistige Trägheit vertreiben, die durch das vorhin überstandene Selbstmitleid ausgelöst wurde. Alles scheint nun ganz einfach zu sein und ich erkenne erschrocken wie unnötig schwer ich mir alles gemacht habe. Warum habe ich mir kein realistisches Ziel gesetzt? Das ich die Absicht, meine Arbeit im Büro genauso gut wie Sandy zu schaffen nicht in die Tat umsetzen können würde, war doch abzusehen, wenn ich mal mein Gehirn eingeschaltet hätte. Allein der Gedanke, wie erleichtert ich im Grunde genommen war, als Sandy mir die erhoffte Stelle „vor der Nase weg geschnappt“ hatte, hätte mir doch zu denken geben müssen, denn dann wäre mir vielleicht klar geworden, dass die Angelegenheit wohl doch eine Nummer zu groß für mich war. Ich habe mir für nächstes Jahr vorgenommen an dem Städtelauf von Wurzen nach Grimma teilzunehmen Das ist ein Halbmarathon! Einundzwanzig Komma ein Kilometer und es würde mir auch nicht im Traum einfallen, meinem Freund Jörg nacheifern zu wollen, der diese Strecke in weniger als anderthalb Stunden läuft. Für mich geht es allein darum diese Distanz zu bewältigen und in Grimma anzukommen, ohne hinterher vor Erschöpfung zusammenzubrechen.

Ja sicher, es war für mich die perfekte Situation im Büro und ich habe die Gunst des Augenblickes genutzt, endlich einmal zeigen zu können, was ich erreichen kann, wenn ich mich mal für eine Sache engagiere, statt mich über mangelnde Chancen zu beklagen. Bei vielen anderen Gelegenheiten habe ich es jedoch geschafft einfach loszulegen und auszuprobieren, wie weit ich komme, denn dann macht es mir Spaß etwas zu tun und hinterher kann ich mich über meine Fortschritte freuen. Und, wieso komme ich überhaupt auf den Gedanken, dass ich unbedingt genauso gut sein muss wie Sandy? Muss ich wirklich die Leute imitieren, die immer nur die Untugenden ihrer Mitmenschen sehen, statt darauf zu achten, was gut ist an ihnen? Ich besitze bestimmt ein Dutzend gute Eigenschaften, die natürlich keinem Anderen auffallen können, wenn sie nicht einmal mir bewusst sind und ich, genau wie andere Menschen nur auf meine Fehler starre, statt mich über das zu freuen, was ich kann. Ich denke, Sandy und ich ergänzen uns super, zusammen waren wir ein unschlagbares Team und ich bin ein guter zweiter Mann, was ja auch seine Vorteile hat. Immerhin habe ich in den drei Monaten, die ich Sandy vertreten habe etwas erreicht, sogar sehr viel, wenn ich richtig darüber nachdenke. Es war das erste Mal, dass ich aktiv etwas Kreatives getan habe, statt eine Situation einfach nur hinzunehmen. Es war das erste Mal, dass ich etwas unternommen habe, ohne mir ein mentales Sicherheitsnetz zu spannen, denn fast bei Allem, was ich unternehme überlege ich mir vorher schon, was als Schlimmstes geschehen könnte und tue dann alles, damit das Verhängnis nicht eintrifft, weil die Enttäuschung dann nämlich nicht so riesengroß, ist, wenn es tatsächlich passiert. Dieses Mal habe ich das glatt vergessen - nicht einen Moment habe ich darüber nachgedacht, wie entmutigt ich sein würde, wenn ich mein hoch gestecktes Ziel nicht erreiche. Außerdem ist es natürlich deprimierend, wenn ich denke: „Ja, ich habe etwas für mich erreicht, aber ich konnte meine Absicht nicht in die Tat umsetzen.“ Besser wäre es schon gewesen, wenn mir mal der Gedanke gekommen wäre, dass ich mein eigentliches Ziel zwar nicht erreicht habe, aber unterm Strich für mich dennoch Einiges heraus gekommen ist. Diese Herangehensweise hätte meinen Blick ganz automatisch von der Katastrophe weg und darauf gelenkt, dass ich einige Eigenschaften an mir entdeckt habe, die ich mir nicht zugetraut habe. Vorher wäre mir nie in den Sinn gekommen, zu behaupten, dass Ehrgeiz und Beharrlichkeit zu meinen besten Eigenschaften gehören. Ich bin noch nie mit so viel Begeisterung an eine Arbeit herangegangen und habe mich auch noch nie so großartig dabei gefühlt. Außerdem hatte ich mal einen Überblick und wusste wenigstens meistens, was und warum ich es tat. Obendrein hatte ich einen Leistungsstand erreicht, auf dem ich aufbauen konnte und von dem aus es sich gelohnt hätte mich an einige Aufgaben zu wagen, deren Bewältigung ich mir bis dahin nicht zugetraut habe. Wenn man auf diese Weise herangeht, ergibt sich doch ein viel positiveres Bild und hat sich nicht allein für dieses Ergebnis der Aufwand an Zeit und Kraft, welche ich in die Arbeit investiert habe, gelohnt? Es kann ja sein, dass diese drei Monate weder für Herrn Meyer noch für Sandy etwas Besonderes waren, für mich jedoch war es eine Leistung auf die ich stolz sein konnte. Ich hatte die Zeit überstanden ohne ein Riesenchaos zu hinterlassen und nur ich allein weiß, was mich dieses Vierteljahr an Energie, Disziplin und Verzicht gekostet hat.

Nun ist meine Entscheidung zu gehen gefallen und ich kann sie nicht mehr rückgängig machen. Nur ungern lasse ich Menschen, die ich mag, lieb gewordene Gewohnheiten und vertraute Orte hinter mir. Der Entschluss, mir eine neue Aufgabe zu suchen, ist über einen langen Zeitraum gewachsen und meine Handlung die logische Konsequenz aus den vielen kleinen Begebenheiten, die - jede für sich vielleicht unbedeutend - jedoch zusammen genommen, wie der Pfeil eines Einbahnstraßenschildes in eine bestimmte Richtung weisen. Ich muss gehen, niemand zwingt mich dazu, doch die Zeit ist reif für einen Neuanfang. Klar, es fällt mir schwer die vertraute Situation aufzugeben, würde es aber gleichzeitig mein leben lang bereuen, wenn ich jetzt nicht loslasse und etwas Neues ausprobiere. Das Leben ist eine Reise ins Unbekannte und ich will wissen, wie sich meine Idee anfühlt und wie sie Gestalt annimmt. Ich will fühlen, wie aus meinem Wunsch eine Tat wird und sich aus dieser Tat eine völlig veränderte Situation entwickelt. Ob ich diese angenehm empfinden werde, muss sich erweisen. Sicher ist das ein Risiko - was ich habe, weiß ich zu schätzen und ich habe mich umso mehr daran fest geklammert, weil sich in diesen drei Monaten meine Einstellung zu der Arbeit in unserem Büro drastisch geändert hat. Jedem, der es hören wollte, habe ich doch in der Vergangenheit immer wieder erzählt, dass ich die Arbeit im Büro nicht mag, weil ich mich mit dieser überfordert fühle und habe darum nicht gleich bemerkt, wie wichtig sie inzwischen für mich geworden ist, denn statt sie als unausweichliche, lästige Pflicht zu betrachten konnte ich sie inzwischen als Herausforderung sehen.

Die scharfen Kontraste der Mittagszeit sind unbemerkt einer weicheren Stimmung gewichen. Es sind viele Stunden vergangen und der Tag neigt sich seinem Ende entgegen. Allmählich habe ich nicht mehr das Gefühl alles gegeben und alles verloren zu haben. Es war eine wunderbare Erfahrung, die ich unbedingt erleben wollte, ich habe gekämpft, um mein Ziel zu erreichen und wenn man sein Bestes gegeben hat, ist es keine Schande zu scheitern. Es wird Zeit für mich, loszulassen und einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen.

Es ist kühl geworden und ich schiebe mein Rad zurück auf den Radweg, um nach Hause zu fahren. Ich bin innerlich ruhig und sehe der kommenden Zeit gelassener entgegen, als noch heute morgen. Es wird neue Ziele, neue Begegnungen und neue Erfahrungen in meinem Leben geben, ich werde neue Wege beschreiten, neue Aufgaben mit Elan und Ausdauer angehen und die Zukunft wird das bringen, was sie bringen soll.