OSTERN IM PLANITZWALD

 

Es tut gut, in Oma Tildes Geschichten zu stöbern. So, wie ich als Schulkind vor meinem Schrank gesessen und jede einzelne Fotografie aus meiner Pralinenschachtel herausgenommen und betrachtet habe, so hole ich mir jetzt nach und nach ihre Geschichten aus meinem Gedächtnis zurück und habe meine Freude daran. Die folgende Episode hat zwar nur indirekt mit Oma Schielke zu tun, doch ohne sie wäre diese so nicht möglich gewesen.

Anfangs bedauerte ich sehr, dass Oma Tilde in den Westen Deutschlands umgezogen war, als sie Rente bekam, denn ich besuchte sie in dem kleinen Harzstädtchen Gernrode sehr gern, in welches es die Familie Schielke nach dem Krieg verschlagen hatte. Als Kind bemerkte ich natürlich nicht, wie bedrückend Schielke Oma ihre Wohnverhältnisse empfand, denn in der Gemütlichkeit ihrer kleinen Stube fühlte ich mich genauso geborgen, wie wenn sie mich in ihrem großen Bett im Schlafzimmer schlafen ließ. Deshalb konnte ich nichts Schlimmes entdecken, an der kleinen Küche, welche separat nur über den Treppenaufgang zu erreichen war und einem Klo, zu dem man bei jedem Wetter erst die Treppe hinunter und danach noch einige Meter über den Hof laufen musste. Als Kind nimmt man so etwas nicht als etwas Außergewöhnliches wahr und dann war ich ja auch immer nur für einen begrenzten Zeitraum bei ihr. Da jedoch trotz aller Anträge an die Stadtverwaltung keine Änderung ihrer Situation in Sicht war, war Oma Schielke, als sie Rente bekam und ausreisen durfte in den Münchener Vorort Markt Schwaben gezogen.

Als ich älter wurde und in die Flegeljahre kam, war es mir jedoch peinlich, wenn Oma Tilde bei ihren jährlichen Weihnachtsbesuchen, wegen ihrer immer schlimmer werdenden Schwerhörigkeit, immer lauter redend mit mir und meiner Schwerster durch Wurzen marschierte. Durch die große räumliche Entfernung vermisste ich sie damals auch nicht mehr so sehr; ihre Geduld und Liebe wusste ich erst wieder zu schätzen, als diese Erkenntnis für mich fast zu spät kam. Kurz bevor sie starb hatte ich gerade erst wieder begonnen sie als interessante Gesprächspartnerin zu entdecken, denn Oma Schielke war ihres hohen Alters wegen und um in der Nähe meiner Mutti zu sein nach Wurzen gezogen. In ihrer neuen Wohnung besuchte ich sie häufig und die Unterhaltungen mit ihr begannen wieder Freude zu machen, weil sie einen wachen, kritischen, mit hintergründigem Humor gepaarten Verstand besaß und wir über vielfältige Themen reden konnten.

Schielke-Omas Geschenkpakete, die wir zu jeder Feier aus „Dem Westen“ erhielten, wussten wir jedoch alle zu würdigen. Schon allein der Duft der ihnen entströmte! Wir freuten uns immer riesig, weil sie Süßigkeiten und liebenswerte Kleinigkeiten enthielten, die wir in der DDR nicht oder nur unter großen Schwierigkeiten zu kaufen bekamen. Legendär sind Schielke-Omas Päckchen in unserer Familie auch heute noch, weil der Platz in den Paketen immer bis auf den letzten Millimeter ausgenutzt war und keiner von uns es jemals geschafft hat, den Inhalt wieder zu verpacken, wenn man ihn einmal entnommen hatte. Egal, wie man sich anstrengte, es blieb immer eine Kleinigkeit übrig, die in den Karton nicht wieder hinein passte.

Als Mutti für sich und mich von Oma Tilde eine Einladung zu ihrem fünfundsiebzigsten Geburtstag erhielt und wir sie ein Jahr vor der Wende in Markt Schwaben besuchen durften, konnte ich selbst sehen, wie der Einkauf für Omas Päckchen vonstatten ging. Sie lief dann entweder über den Wochenmarkt in Markt Schwaben oder fuhr mit der S-Bahn nach München, wo sie anschließend durch die Geschäfte, wie durch ein Museum biddelte, sich an den vielfältigen und schönen Waren erfreuend, die in den Schaufenstern und Regalen auslagen und Dinge erwarb, von denen sie hoffte, uns damit eine Freude bereiten zu können. Sie ließ sich treiben, schaute in dieses Geschäft und in jenes, wechselte einige freundliche Worte mit der jeweiligen Verkäuferin und heute tue ich dies ganz genauso, wenn ich für Freunde, Bekannte oder Familienangehörige Geschenke benötige und noch keine Idee habe, mit welchen Dingen ich den Betreffenden erfreuen kann.

Nun war kurz vor Ostern wieder einmal eines der begehrten Westpakete aus München eingetroffen mit vielen Geschenken für die ganze Familie und auch mit einigen Süßigkeiten, die Mutti gleich für die Ostereiersuche vorsah. Meine Eltern hatten die Tradition eingeführt, Ostersonntag in den Planitzwald nach Schmölen zu fahren, um dort im Grünen die Osterüberraschungen zu verstecken. Wir suchten uns eine Lichtung aus; die Eltern versteckten Süßigkeiten für meine Schwester und mich und wir beiden Teenys suchten Verstecke für die Sachen, die wir für unsere Eltern vorbereitet hatten. Bei dieser Suche gab es immer viel Freude, vor allem, weil wir natürlich Verstecke aussuchten, die zwar nicht gleich auf den ersten Blick, aber trotzdem leicht zu finden waren. Zur Sicherheit hatte meine Mutti sich jedoch auf einem Zettel notiert, was sie und Vati in Büschen und hinter Bäumen versteckt hatten, was auch gut so war, denn als wir glaubten mit der Suche für dieses Jahr fertig zu sein, stelle sie plötzlich fest, dass eine Tafel Ritter Sport fehlte. Die Tafel Schokolade für die Rehe und Hasen im Wald liegen zu lassen kam gar nicht infrage und da die Ameisen den Süßkram sicherlich auch nicht zu schätzen gewusst hätten, begann unsere ganze Familie nun gründlich auf die Suche zu gehen. Die Eltern hatten das Versteck vergessen, in welches sie die, mit Marzipan gefüllte Tafel Schokolade verborgen hatten, weshalb die Suche nach dem quadratischen Glücklichmacher mindestens eine halbe Stunde lang sehr intensiv betrieben wurde. Nur gut, dass der köstliche Dickmacher rot verpackt war, sonst hätten wir ihn vielleicht doch nicht gefunden. Jedoch, kurz bevor wir aufgeben und die Schokolade doch noch für den Förster zurücklassen wollten, richtete ich meinen Blick nach oben und fand sie in einer Astgabel festgeklemmt. Froh packten wir danach die guten Dinge in mitgebrachte Taschen, verstauten diese im Kofferraum unseres Trabbis und konnten danach frohgemut unseren Osterspaziergang in Angriff nehmen.