HARZWANDERUNGEN

Als Oma Tilde im Sommer 1995 starb, traf mich die Wucht des Schmerzes, den ihr Tod mir verursachte, völlig unvorbereitet. Es war, als stürzte die Welt ein. Fassungslos stand ich an ihrem Grab, denn niemals vorher war mir so bewusst gewesen, wie sehr ich die alte Dame geliebt hatte. Jugend ist nun einmal oberflächlich und ich habe längst aufgehört, mir Vorwürfe zu machen, dass ich nicht erkannt habe, welch festes Band zwischen uns bestand, ein Band aus Liebe, das gewebt wurde, als ein kleines Mädchen an der Hand der Großmutter durch den Harz wanderte und ihren Geschichten lauschte. Die Zeit, die ich bei meiner Schielke-Oma verbrachte, war voller Poesie. Zeit wurde bedeutungslos, wenn Oma Tilde von Riesen und anderen Fabelwesen aus den alten Harzsagen erzählte, ich spürte nicht, wenn ich müde vom Wandern war und mir die Füße schmerzten. Staunend stand ich vor dem „Hufabdruck“ auf dem Rosstrappefelsen und versuchte mir vorzustellen, wie groß wohl das Pferd gewesen sein mochte, mit dem die Riesin Brunhilde über den Abgrund sprang, als sie vor dem Riesen Bodo flüchtete. Noch heute ist die romantische Harzlandschaft untrennbar mit den Geschichten verknüpft, mit denen Oma Tilde meine Kinderzeit verzauberte. Die Landschaft erhielt durch ihre Erzählungen etwas Magisches, das auch heute noch für mich den Reiz dieser Gegend ausmacht. Fast noch schöner als die Sagen von Bodo, Ilse und dem Hexentanz in der Walpurgisnacht war es jedoch, wenn Schielke-Oma „von früher“ erzählte. Große geschichtliche Ereignisse wurden so greifbar in ihren unmittelbaren Auswirkungen auf meine Vorfahren, mit denen ich mich durch diese Erzählungen eng verbunden fühlte. Die Faszination, die Landschaften auf mich ausüben, mein Interesse an geschichtlichen Zusammenhängen, vor allem aber die Neugierde auf meine Mitmenschen und ihre Erlebnisse wurden durch die Harzwanderungen mit meiner Oma geprägt. Wie andere Leute Briefmarken sammeln, sammle ich die Geschichten meiner Mitmenschen, die diese mir gerne anvertrauen. Lange Zeit war ich traurig, dass mir vor ihrem Tod, der große Einfluss nicht bewusst war, den Oma Tilde mit ihren Geschichten auf mein Leben nahm, weil ich ihr dafür nicht mehr danken konnte. Geweckt hat meine Oma jedoch auch die Lust am Fabulieren, weshalb ich mir nun vorgenommen habe ihre und die Geschichten anderer Menschen aufzuschreiben um ihr hiermit, wenn auch verspätet, ein Denkmal zu setzen.                     

In Liebe Ute