DER GEMEINE HAUSDRACHEN

 (faesulai simplicis domus draconius)

 

Der gemeine Hausdrachen, lateinisch faesulai simlicis domus draconius, ist die besonders unbeliebte Unterart einer Spezies, welche für manche Menschen nur im Reich der Märchen und Sagen unserer Vorfahren existiert. Lassen Sie sich bitte nichts vormachen, dies ist eine Lüge, die höchstwahrscheinlich durch den gemeinen Hausdrachen in dessem eigenen Interesse verbreitet wird, um möglichst unerkannt seine schlimmen Pläne in die Tat umsetzten zu können. Doch Vorsicht! Ein Exemplar dieser furchterregenden Kreaturen lebt in fast jedem Mehrfamilienhaus, jeder Wohnsiedlung und jedem Dorf auf diesem Planeten und daher bestimmt auch in Ihrer Nähe.

Die meisten auf der Erde lebenden gemeinen Hausdrachen sind weiblich und die Fortpflanzung dieser Geschöpfe findet aus diesem Grunde allein auf dem Wege der Nachahmung statt. Bevor der gemeine Hausdrachen ein Lebensalter von ungefähr Fünfzig Jahren erreicht hat, merkt man von seinen Aktivitäten nicht viel, denn bis dahin wird er von seinen älteren Artgenossen in Schach gehalten. Von diesen schaut er sich jedoch alle Verhaltensweisen ab, die ihm für seine spätere unheilvolle Tätigkeit von Nutzen sein könnten, beispielsweise, wie man seine Mitbewohner tyrannisiert, observiert, kontrolliert und manipuliert.

Sein Bedarf an Informationen und Neuigkeiten ist unbegrenzt und in deren Besitz zu gelangen, dem gemeinen Hausdrachen fast jedes Mittel recht. Rufmord, Klatschsucht und das Verbreiten von Gerüchten, Halbwahrheiten und Lügen sind seine ganz speziellen Stärken. Wenn seine älteren Artgenossen schließlich, zu alt, krank, im Altersheim oder anderweitig abhanden gekommen sind, ist die Zeit des gemeinen Hausdrachen gekommen und er ist ein voll ausgebildetes Ungeheuer, welches an Niedertracht, Hinterlist und Dummheit alles übertrifft, was Ihnen im Leben jemals untergekommen ist. Um seinem ereignislos gewordenem Leben wieder einen Sinn zu geben regt sich der gemeine Hausdrachen gern laut und lange über Kleinigkeiten auf und bezieht die Macht über seine Umgebung allein aus der Angst vor seiner spitzen Zunge. Außerdem versteht es der gemeine Hausdrachen meisterhaft, sich durch freundliches Lächeln, Hilfsbereitschaft, Gutmütigkeit und scheinbare Anteilnahme zu tarnen und wehe, Ihre Wachsamkeit gegenüber dieser besonders unausstehlichen Kreatur lässt auch nur einen Augenblick nach - ein falsches Wort, an falscher Stelle im falschen Augenblick geäußert und an Ihnen wird kein gutes Haar mehr zu finden sein.

Im Grunde jedoch ist es vollkommen gleichgültig, was Sie sagen, tun oder unterlassen, es wird in jedem Falle falsch und ein Grund für den gemeinen Hausdrachen sein, in der Nachbarschaft Gräuelmärchen über Sie zu verbreiten. Stellen Sie sich nur einmal vor, Sie begegnen in der Stadt einer Freundin, welche Ihnen in den schwärzesten Farben von einer äußerst unsympathischen Person berichtet, die im Haus einer gemeinsamen Bekannten ihr Unwesen treibt und erst im Weiterlaufen wird Ihnen durch eine unvorsichtigerweise geäußerte Redewendung, die Ihnen im Anschluss an das Gespräch durch den Kopf geht klar, dass soeben von Ihnen die Rede war.

Es gibt nur eines, das noch schlimmer als ein gemeiner Hausdrachen ist und das sind zwei dieser voll ausgebildeten, mit allen Wassern gewaschenen Bestien, welche die Kunst beherrschen alles Schöne im Handumdrehen in etwas Abstoßendes verwandeln zu können. Vor ihnen gibt es kein Entrinnen - beide zänkisch, rechthaberisch, gehässig, unverfroren und untereinander spinnefeind, verbünden sie sich sofort, wenn es gilt gegen einen Mitbürger mit Eigeninitiative zusammenzuhalten. Ein gemeiner Hausdrachen in einer Wohnung im Erdgeschoss hausend und der andere in seinem Domizil irgendwo zwischen dritter Etage und Dachgeschoss lauernd und einer minutiösen Überwachung aller Hausbewohner steht nichts im Wege. So schaffen es die gemeinen Hausdrachen stets über die Aktivitäten aller Menschen in ihrer unmittelbaren Umgebung auf dem Laufenden zu sein und es gibt nur ein Gesprächsthema für sie: die abgrundtiefe Schlechtigkeit ihrer Mitmenschen. Sie hetzen, sie keifen, sie wissen über jeden nur das Allerschlimmste und wundern sich trotzdem, dass niemand etwas mit ihnen zu tun haben möchte.

Der gemeine Hausdrachen hat eine Antenne dafür, wann Sie auf der Bildfläche erscheinen und wird versuchen, Sie gegen dessen Intimfeind aufzuhetzen, falls Sie nur ein einziges Mal so töricht sein sollten, Mitleid seiner scheinbaren Einsamkeit wegen zu zeigen und ihm ein wenig Ihrer kostbaren Zeit zu schenken. Versöhnungsversuche aller Art sind zum Scheitern verurteilt, Neutralitätsbeweise mit der Andeutung, dass Ihnen der andere Hausdrachen nichts getan habe völlig zwecklos und der Versuch, diese Wohltäter der Menschheit zu ignorieren gleichfalls wenig Erfolg versprechend. Falls Sie das Pech haben, dass Ihr gemeiner Hausdrachen sich irgendwann eine schlechte Meinung über Ihre Person gebildet hat, dann ist er nicht mehr davon abzubringen und jeder Versuch ihn vom Gegenteil überzeugen zu wollen wird diese Ansichten noch verschlimmern. Ganz im Gegenteil, man wird Ihnen unterstellen sich anbiedern zu wollen. Nein, bestärken Sie Ihren Hausdrachen in dessen Auffassung, geben Sie Ihm Recht - er ist sowieso von der Bösartigkeit der Menschheit überzeugt! Auf diese Art werden sie jede Menge Energie, Zeit und Aufwand sparen und man wird sie, widerwillig zwar, bald als Verbündete ansehen. Dies wird Ihnen eine Atempause verschaffen. Bleiben Sie jedoch trotzdem wachsam, denn der gemeine Hausdrachen wird Ihnen auch in Zukunft nachschnüffeln, Sie weiterhin aushorchen oder gar versuchen Sie für die undankbare Aufgabe zu missbrauchen Ihre Nachbarn zu entzweien. Erst, wenn in der gesamten Umgebung eine Stimmung aus Unsicherheit, Misstrauen, Neid, Feindschaft oder gar Gleichgültigkeit herrscht und auch der letzte Rest Harmonie aus dem Alltag seiner Untertanen verschwunden sein wird, hat der gemeine Hausdrachen endlich erreicht, was er sich vorgenommen hat. Natürlich wird er sich an der von ihm verursachten Situation für völlig schuldlos halten und kein schlechtes Gewissen wird ihn daran hindern jeden seiner Mitbürger, deren er habhaft werden kann mit geheuchelter Verwunderung zu fragen, wie es nur habe so weit kommen können.

Um den gemeinen Hausdrachen zu zähmen gibt es nur ein Mittel, welches wirklich hilft: Zeigen Sie ihm die Zähne, brüllen sie zurück, kämpfen Sie! Passen Sie einen Moment ab, in dem er wieder einmal einer Lappalie wegen Feuer speiend vor Ihnen steht. Warten Sie, bis er sich vollkommen verausgabt hat - er ist dann völlig wehrlos, da er glaubt, Ihr Selbstvertrauen endgültig vernichtet zu haben. Nun ist Ihre Stunde gekommen! Pumpen Sie so viel Luft in Ihre Lungen, wie Sie können, bauen Sie sich zu doppelter Größe auf und schreien Sie den Frust hinaus, der sich in Ihnen in jahrelanger Duldsamkeit angestaut hat. Unterlassen Sie dabei jeglichen Versuch auf Ihre Worte zu achten, da dies nur Ihre Kampfkraft einschränkt. Ich verspreche Ihnen, dass Sie eine großartige Überraschung und eine vorher nicht erwartete Verwandlung erleben werden. Einige zitternde Atemzüge, einige zaghafte Rauchwölkchen, die sich schnell verflüchtigen und vor ihnen wird eine nette alte Dame mit großen, verwundert in die Welt blickenden Augen stehen, welcher ob Ihrer Gegenwehr die Worte fehlen und die Sie in Zukunft mit gebührender Achtung behandeln wird. Haben Sie Mut und probieren Sie es aus, zu verlieren haben Sie doch nichts, denn ihr guter Ruf ist ohnehin ruiniert und ich versichere Ihnen, dass der Erfolg sich schneller und nachhaltiger einstellen wird, als Sie zu hoffen wagen.

Woher ich das weiß? Weil der eine Hausdrachen Reißaus genommen hat und mir der übrig gebliebene aus der Hand frisst, seitdem ich den beiden Urviechern auf diese Weise bewiesen habe, dass sich meine Angst vor ihnen in Luft aufgelöst hat.