Das Lied des Amselhahnes

 

Hast Du schon einmal beobachtet, dass sich die gelbschnäbeligen, schwarzbefrakten Amselmännchen, wenn sie verliebt sind, den höchsten Punkt in ihrer Umgebung aussuchen, um ihrer Angebeteten ein Lied zu zwitschern? Sie sitzen beispielsweise auf dem höchsten Ast eines alten Birnbaums im großen Obstgarten der Familie Müller, der Fernsehantenne des Nachbarhauses oder dem Schornstein einer kleinen, nahebei gelegenen, stillgelegten Fabrik. Von dort schmettern sie mit stolz geschwellter Brust ihre schönsten Lieder von unendlicher Liebe zu ihrer Herzensdame, den Farben des Lebens oder der unendlichen Weite des Himmels in den erwachenden Morgen. Süß und hinreißend fliegt ihre Melodie über die Baumwipfel. Davon wird selbst die Sonne munter. Sie schiebt die wärmende Wolkendecke beiseite und auch der heraufdämmernde Tag beginnt sich den Schlaf aus seinen Augen zu reiben. Und die Amseldamen? Scheinbar unbeeindruckt hüpfen sie über die Wiesen, suchen nach Samen oder Regenwürmern, aber natürlich genießen sie jeden Ton und jeden Träller ihres Verehrers. 

In diesem Frühling jedoch war alles anders, als in den vorangegangenen Jahren. Alfred, der Amselmann sang in diesem Jahr nicht seine üblichen Weisheiten sondern textete aus einer Geschichte, die er selbst beobachtet hatte ein Gedicht. Verwundert vergaß Clara, sein Lieblingsamselmädchen die Regenwürmer und der Wind, der so etwas ähnliches, wie Zeitungsreporter und Postbote in der Natur ringsherum war, nahm die Geschichte auf, erzählte sie den Bäumen an der Straße, flüsterte sie den Blumen in den Vorgärten zu und auch den Weizenhälmchen, die auf den Fluren vor dem Dorf gerade ihre grünen Spitzen aus der Erde streckten und dort hörte sie der kleine Lenny Hoppelpoppel. Sein Bäuchlein hüpfte vor Lachen und schnell hoppelte er zum Hasenbau, um alle anderen aus seiner Familie an dem Spaß teilhaben zu lassen. 

Lenny selbst hätte sich wohl gegen die Behauptung gesträubt, er wäre klein, denn Jungen sind immer groß und stark, auch wenn sie gerade erst unterscheiden gelernt haben, was es bedeutet, laut oder leise, stark oder schwach, groß oder klein zu sein. Aber das war Lenny in diesem Moment egal. Aufgeregt stürmte er zu seiner Mutter Gerlinde in die Küche. „Hast du schon gehört, was der Wind erzählt?“, rief Lenny ihr atemlos zu, denn er war schnell gerannt, um seiner Mutter die Neuigkeit als Erster überbringen zu können. „Immer mit der Ruhe.“, brummte Mutter Gerlinde, die die Aufregung ihres Sohnes überhaupt nicht verstehen konnte. „Keine Nachricht ist wichtig genug, sich so abzuhetzen, dass man keine Luft mehr bekommt“, war ihre Meinung und sie wandte sich wieder ihrem Herd zu, um die Brennnesselsuppe umzurühren, die es heute zum Mittagessen geben sollte. Lenny konnte jedoch nicht abwarten, zu sehr brannte er vor Ungeduld seine Geschichte loszuwerden. 

Was war geschehen? 

Hasen, musst Du wissen, sind echte Feinschmecker. Zwar fressen sie Gräser, Klee, Löwenzahn und Brennnesseln, am besten schmecken ihnen jedoch die ersten frischen zarten Triebe der Weidensträucher im Frühling. Weidenspitzen musst Du Dir vorstellen, sind für einen Hasen, wie eine besonders leckere Schokoladensorte für Dich. Und Kurtl, der von Mutter Gerlinde die Aufgabe bekommen hatte, vom Weidenstrauch einige Spitzen, als Nachtisch für das Mittagessen nach Hause zu bringen, war ein ganz normales Hasenkind. Wie jedes Kind naschte der Hasenjunge Kurt sehr gerne und so konnte das Unheil seinen Lauf nehmen, denn er nutzte die Gelegenheit natürlich, um sich erst einmal mit dem leckeren Grünzeug den Magen vollzuschlagen. 

Neben dem Weidenstrauch stand eine alte, knorrige Eiche, auf deren Ästen letze Reste Schnee lagen, die die Frühlingssonne noch nicht aufgeschleckt hatte. Auf einem ihrer kahlen Zweige saß Alfred, der Amselhahn. Alfred beobachtete Kurtl beim Naschen und gab keinen Mucks von sich, als sich von dem Ast neben ihm eine Schneelast löste, die donnernd neben dem Hasenjungen zur Erde krachte. Wumm! Der kleine Hase war so erschrocken, dass er sich nicht umsah, sondern einfach nur rannte und rannte und rannte, als wäre sein schlechtes Gewissen hinter ihm her, um ihn für seine Naschsucht zu strafen. 

Linda, dass Mäusemädchen, ließ sich vor dem Eingang ihrer Behausung gerade die Frühlingssonne auf den Pelz brennen, als sie ihren Spielkameraden Kurt vorüber preschen sah. „Hmm, da stimmt doch etwas nicht!“ überlegte Linda, die keinen Grund für die Eile erkennen konnte, mit der Kurt das Weite suchte: „Wenn Kurtl, der mutigste aller jungen Hasen, so rennt, als wären sämtliche Waldgeister hinter ihm her, ist bestimmt irgendwo etwas im Busch.“ und ohne noch länger abzuwarten flitzte sie, was ihre kleinen Beinchen hergaben dem Hasenjungen Kurtl hinterher. 

„Was geht denn hier ab?“, fragte sich verwundert das Eichhörnchen, das gerade nach einem Versteck suchte, welches es vor dem Winter an dieser Stelle angelegt hatte, als es seine Freunde , den Hasenjungen Kurt und hinter ihm Linda, das Mäusemädchen so ungestüm, wie den Sturm im vergangenen Herbst vorbeibrausen sah. Da packte Karl, den Rotpelz mit dem buschigen Schwanz, die Furcht und ohne darüber nachzudenken, welchen Grund die Eile der beiden wohl haben könnte, ließ er seine Bucheckern, wo sie waren und machte sich ebenfalls aus dem Staub. 

Wiesel Herbert, war der Nächste, an dessen Schlupfloch die wilde Jagd vorbeischoss. „Mensch Leute, wo wollt ihr denn so schnell hin?“, rief er den Dreien verwundert nach. Als er jedoch keine Antwort erhielt, vergaß er, dass er, als einziges Tier des Waldes keinen Feind fürchten musste, denn lange vorbei waren die Zeiten, als die Menschen ihn wegen seines Winterfelles jagten, um daraus Umhänge für ihre Könige und Kaiser zu nähen. So lange er die Hühner in den Ställen des Dorfes in Frieden ließ, ließen ihn auch die verhassten Zweibeiner in Ruhe. Denn, so folgerte Herbert, wenn Kurt, Linda, und Karl an ihm vorbei jagten ohne nach rechts oder links zu sehen, musste Gefahr im Verzug sein und so dachte er, wurde es auch für ihn höchste Zeit das Weite zu suchen. 

Nun rannte die Maus hinter dem Hasen her, das Eichhörnchen hinter der Maus und das Wiesel hinter dem Eichhörnchen, aus Angst vor dem Unheil, das hinter ihnen her war. Sie keuchten, sie schwitzten, ihre Lungen brannten und das Blut rauschte in ihren Ohren, aber nicht ein einziges Mal sahen sie sich um. Nur fort geschwind! Alle Tiere des Waldes kennen genügend Gefahren und meist ist es lebensgefährlich sich erst zu bedenken, ob man abwarten oder die Flucht ergreifen will. Etwas Ähnliches musste auch Carola, das Rehkitz gefühlt haben, als die vier an dem Holunderbusch vorbei stürmten, unter dessen Zweigen sie sich verborgen hielt. Vergessen waren die Ermahnungen ihrer Mutter, der Ricke, sich nicht von der Stelle zu rühren, egal was geschah. Die Energie der flüchtenden Schar riss sie mit. Blökend vor Angst und so schnell ihre dünnen Beinchen sie trugen stolperte nun auch Carola hinter den Kameraden drein. 

Fröhlich vor sich hin pfeifend wusch Waschbärenfräulein Rosa einen Regenwurm im Bach. Waschbären, sind reinliche Tiere, die ihre Nahrung erst säubern, ehe sie sie aufessen, schließlich kleben an Larven und Regenwürmen, die man frisch aus der Erde gebuddelt hat, jede menge kleiner Steine, die beim Kauen unangenehm zwischen den Zähnen knirschen. Das Lachen blieb Rosa im Halse stecken und mit ihrer Ruhe war es vorbei, als sie den Hasenjungen Kurt, so schnell er konnte durch den Wald hetzen sah. Und Linda, die Maus folgte Kurtl dem Hasenjungen, Karl, das Eichhörnchen folgte Linda, Wiesel Herbert folgte Karl und zum Schluss folgte das Rehkitz Carola, auf unsicheren Beinen. Glück hatte der Regenwurm, denn Rosa ließ ihn fallen und vergaß ihn zu verspeisen. So schnell er konnte, grub er sich in die lockere, feuchte Erde am Bachufer. Halb blind vor Angst wuselte Rosa nun gleichfalls davon und versuchte mit aller Kraft, das Tempo ihrer Freunde mitzuhalten. 

Waschbären sind keine schnellen Läufer und deshalb konnte Rosa den anderen Tieren trotz aller Anstrengung kaum folgen. Lange musste sie sich aber nicht plagen, denn nicht weit voraus, auf einer kleinen Lichtung bemerkte sie plötzlich ihre Freunde Carola, Herbert, Karl, Linda und Kurtl, die im Halbkreis um Max, den Dachsjungen versammelt waren. Bis auf Max keuchten alle vom schnellen Lauf und sahen sich mit großen glänzenden Augen verwundert an. Der besonnene Max, den so schnell nichts in Panik versetzte, hatte es schließlich geschafft, seine wild gewordenen Kameraden aufzuhalten und wollte nun von ihnen wissen, warum sie in blinder Hast durch diesen friedlichen, sonnigen Frühlingstag rasten, als wären ihnen sämtliche Katastrophen der Welt auf den Fersen. 

Auch wenn Kurtl anfangs nicht mit der Sprache herausrücken wollte, kam doch heraus, wovor er erschrocken und ausgerissen war, denn Alfred konnte seinen vorlauten Schnabel nicht halten. In Wald und Flur sorgte diese Geschichte noch lange für Heiterkeit, schließlich war nichts Schlimmes passiert und jeder gönnte dem vorlauten Kurt diese kleine Blamage. Aber selbst Kurtl, konnte Alfred wegen seines verräterischen Geschwätzes nicht lange böse sein, er lernte über sich selbst zu schmunzeln und stimmte ein in das Lachen seiner Freunde. Dem Amselhahn Alfred aber gelang es mit dieser Geschichte die Liebe seines geliebten Amselfräuleins Clara zu erringen. Die beiden feierten eine große Vogelhochzeit mit vielen Gästen. Kurz darauf bauten sich Clara und Alfred ein geräumiges Nest und bald schon lugten kleine weiche Federbällchen mit stecknadelgroßen schwarzen Augen und hungrig aufgesperrten Schnäbeln in die Welt und erfüllten die Luft mit hungrigen Piepsern.