DAS SILBERKETTCHEN

 

Eine Geschichte, die meine Oma oft erzählte, hörte ich besonders gern, obwohl ich hierfür keinen außergewöhnlichen Grund nennen kann. Sie handelt in der Zeit der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, also zur Zeit der Inflation. Als Kind konnte ich mir unter diesem Begriff nichts vorstellen, dafür war er viel zu abstrakt, aber wenn meine Oma davon berichtete, warum in unserer Familie nur noch ein Silberkettchen existiert, dann wurde diese Zeit auch für mich lebendig und greifbar. Das Kettchen ist jetzt im Besitz meiner Schwester und ich habe es lange Zeit nicht gesehen, weshalb ich mich nicht genau daran erinnern kann. Es wird ein einfaches dünnes silbernes Schmuckband sein. Der Anhänger jedoch hat etwa die Größe eines Fünfzig Cent Stückes und ein pausbäckiger Engel ist darauf geprägt, welcher den Betrachter nachdenklich ansieht, seinen Arm auf eine Wolke stützend und den Kopf in die Hand gelehnt. 

In den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts war meine Oma natürlich noch keine, sondern eine junge Frau von etwa achtzehn Jahren, die zusammen mit ihrer Schwester Emilie auf dem Weg in die Schweiz zu Onkel und Tante war. Sie erzählte, dass das Reisen schon deshalb abenteuerlich war, weil die Geschwister von diesen Verwandten nur ein Foto hatten, diese also in natura entweder noch nie oder schon lange Zeit nicht mehr gesehen hatten. Man muss sich vergegenwärtigen, dass es die Jahre nach dem ersten Weltkrieg waren, Briefe waren einige Tage oder gar Wochen unterwegs, auch verfügte kaum ein Haushalt über einen Telefonanschluss, Handys waren noch nicht erfunden, und so weit ich mich richtig besinne, waren Tante und Onkel in Zürich nicht einmal im Besitz einer aktuellen Fotografie der Geschwister. Im Rückblick war diese Geschichte Oma Tildes natürlich ein großes Abenteuer, aber ob sie mir diesen Eindruck wirklich vermitteln wollte bezweifle ich, denn abenteuerlich waren diese Zeiten gewiss nicht, oder nur für sehr reiche Leute, die sich keine Sorgen um Geld machen mussten. Im Gegenteil, für einen der berühmtesten Kräche in unserer Familiengeschichte wurde in dieser Zeit der Grundstein gelegt. Meine Großtante Helene, die von allen liebevoll Tante Leni genannt wurde, hatte deren jüngerer Schwester vor der Inflation fast ihr gesamtes Erspartes geborgt, als diese sich zusammen mit ihrem Mann ein Haus kaufen wollte. Die „Kleine“, Tante Gerda, zahlte den Kredit an Tante Leni zurück, als es für den Betrag vielleicht gerade einmal ein Stück Butter zu kaufen gab und diese hat, derartig um eine hohe Summe betrogen, mit ihrer Schwester bis zu deren Lebensende kein Wort mehr gewechselt. 

Einer meiner Freunde behauptet, dass das Synonym „Kohle“ für Geld auch heute noch deshalb verwendet wird, weil zur Zeit der Inflation, der Heizwert des Geldes höher war, als der Heizwert, der Kohle, die man dafür zu kaufen bekam. Ich weiß nicht, ob ich ihm diese Geschichte abnehmen soll - vorstellbar ist es jedoch immerhin - denn diese Art der Ironie tröstet über manches Schwere hinweg. Auch im Geschichtsunterricht habe ich gelernt, dass das Geld an manchen Tagen stündlich an Wert einbüßte, dass Tausend-Mark-Scheine mit Millionen- oder gar Milliardenbeträgen überdruckt wurden, und man einen Handwagen benötigte um einen Tage- oder Wochenlohn wegzukarren. Frauen warteten schon vor den Werktoren auf ihre Männer, das hart verdiente Gehalt in Empfang zu nehmen, um damit beim Bäcker wenigstens noch ein Brot kaufen zu können. Für mich war es immer unvorstellbar, dass man an einem Tag mehre Millionen oder Milliarden Mark verdienen konnte und das verdiente Geld hernach auf dem Weg vom Werkstor bis zum nächsten Geschäft derartig an Kaufkraft verlor, dass es nicht einmal mehr ausreichte um das Notwendigste einkaufen zu können. 

Um nun endlich einmal auf den Punkt zu kommen: die beiden Geschwister Emilie und Mathilde standen in einer langen Schlange vor dem Schalter des Augsburger Bahnhofes, um Fahrkarten für die Reise nach Zürich zu kaufen. Es ging nur schleppend voran und der Preis stieg von Minute zu Minute, sodass meine Oma und ihre Schwester schon in tausend Ängsten schwebten, ob ihr Geld reichen würde. So kam es schließlich auch, als die beiden endlich vor dem Schalter standen, fehlte tatsächlich eine beträchtliche Summe zum Kauf des Billets, sodass die Geschwister sich schweren Herzens entschieden, eines ihrer Silberkettchen zu verkaufen, um nicht unverrichteter Dinge wieder nach Hause gehen zu müssen.

Ob Oma Tilde etwas darüber erzählt hat, wer ihnen das Kettchen abgekaufte und wie anschließend die Fahrt verlaufen ist, weiß ich nicht mehr. Die Fahrt wird lange gedauert haben, aber immerhin sind die beiden jungen Frauen in Zürich angekommen und auch von deren Onkel und Tante, die schon am Bahnsteig auf ihre Nichten warteten, in Empfang genommen worden. Es ist also ein Bericht mit glücklichem Ausgang und für mich ist der unbestreitbare Vorteil solcher Anekdoten, dass es bunte Ranken sind, die sich um das Leben winden, während sich Geschichte mit nüchternen Fakten begnügt.